Black Box
wieder da.
Nach seiner Scheidung – seine Frau behielt das Haus, er zog in die Einzimmerwohnung unter dem Kino – und nachdem direkt vor der Stadt das Cineplex mit seinen acht Leinwänden eröffnet hatte, fing er schließlich wieder an, sich zwanghaft mit ihr zu beschäftigen. Das heißt nicht so sehr mit ihrer Person als mit dem Kino selbst. (Aber gab es da überhaupt einen Unterschied? Eigentlich nicht, denn wenn er an die eine Sache dachte, dachte er immer auch an die andere.) Er hat nie damit gerechnet, dass er einmal so alt werden und gleichzeitig so viele Schulden haben würde. Sein Kopf ist derart voll von Ideen – verzweifelten Ideen – wie er das Kino vor dem Konkurs retten könnte, dass er kaum einschlafen kann. Die ganze Nacht grübelt er über Einnahmen, Personal, Aktivposten, und wenn er nicht mehr über Geld nachdenken kann, versucht er sich vorzustellen, wie es für ihn sein wird, wenn das Kino zumacht. Er sieht ein Altenheim mit Matratzen, die nach Mobilat stinken; Greise, die ihr Gebiss rausgenommen haben, im Gemeinschqftsraum hocken und sich den ganzen Tag Sitcoms ansehen; einen Ort, an dem er wie eine Tapete, die durch zu viel Sonne langsam ihre Farbe verliert, verblassen würde.
Das alles ist schlimm genug. Noch furchtbarer aber ist, sich auszumalen, was mit ihr geschieht, wenn das Rosebud schließt. Er sieht es vor sich, wie die Sitzreihen herausgerissen werden, ein leerer Raum mit Staubhaufen in jeder Ecke und versteinerten Kaugummiresten. Jugendliche brechen ein, um sich volllaufen zu lassen und zu vögeln; überall liegen Bierflaschen herum, an den Wänden prangen Graffiti, vor der Bühne liegt ein einzelnes, gebrauchtes Kondom. Und sie schwindet langsam dahin.
Oder eben nicht – und das ist die schlimmste Vorstellung überhaupt.
Zum ersten Mal hat Alec sie mit fünfzehn gesehen, sechs Tage nachdem er erfahren hatte, dass sein Bruder im Südpazifik gefallen war. Präsident Truman hatte einen Brief geschickt, in dem er sein Beileid bekundete. Ein Formbrief, aber die Unterschrift darunter war echt gewesen. Damals hat Alec nicht geweint. Erst Jahre später begriff er, dass er in jener Woche in einem Schockzustand gewesen war, dass er den Menschen verloren hatte, den er auf der ganzen Welt am meisten liebte, und dass ihn das schwer traumatisiert hatte. 1945 allerdings verwendete niemand das Wort »traumatisiert«, um über Gefühle zu sprechen, und der einzige Schock, über den die Leute redeten, hatte mit fernen Schlachtfeldern zu tun.
Morgens sagte er zu seiner Mutter, er ginge in die Schule. Doch er ging nicht in die Schule. Er hing in der Stadt herum und suchte Ärger. Im American Luncheonette klaute er Schokoriegel und aß sie draußen in der leeren Schuhfabrik – sie hatte zugemacht, weil alle Männer in Frankreich oder im Südpazifik waren. Mit einer guten Dosis Zucker im Blut warf er Steine durch die Fensterscheiben und übte mit seinem Fastball.
Einmal, als er die Gasse hinter dem Rosebud hinunterschlenderte, bemerkte er, dass die Brandschutztür des Kinos nicht ganz geschlossen war. Die Außenseite war aus glattem Metall und hatte keinen Griff, aber es gelang ihm, die Tür mit den Fingernägeln aufzustemmen. Es lief gerade die Nachmittagsvorstellung, beinahe alle Sitze waren von Kindern unter zehn und ihren Müttern besetzt. Die Tür befand sich in der Mitte des Kinos in einer Nische; niemand hatte ihn hereinkommen sehen. Geduckt schlich er den Gang hinauf und fand hinten noch einen freien Sessel.
»Jimmy Stewart ist in den Pazifik gegangen«, hatte ihm sein Bruder während seines Fronturlaubs erzählt. Sie warfen sich hinter dem Haus einen Ball zu. »Mr. Smith belegt Tokio vermutlich gerade mit einem Bombenteppich. Verrückte Vorstellung, was?« Alecs Bruder war ein erklärter Filmfreak; sie gingen in jeden Film, der während seines einmonatigen Urlaubs anlief: Bataan, Alarm im Pazifik, Der Weg zum Glück.
Jetzt lief gerade das Vorprogramm, die neuesten Abenteuer irgendeines singenden Cowboys. Der Held hatte lange Wimpern und einen so dunklen Mund, dass seine Lippen fast schwarz wirkten. Alec konnte sich nicht für ihn begeistern. Er bohrte in der Nase und überlegte, wie er wohl ohne Geld an eine Cola kommen könnte – da begann der eigentliche Film.
Erst wurde Alec nicht schlau daraus. Was war das denn für ein Streifen? Offenbar ein Musical. Er sah Orchestermusiker, die einer nach dem anderen auf eine Bühne kamen und sich vor einen blauen Hintergrund setzten.
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