Black Box
für Kinder. Harry Parcells liebt dieses Filmtheater, aber er führt immer die falschen Filme vor.«
Aus ihrem linken Nasenloch lief erneut Blut, lief ihr über die Lippen, doch Alecs Aufmerksamkeit hatte sich inzwischen etwas anderem zugewandt. Sie saßen direkt unter dem Projektorstrahl, und Nachtfalter und andere Insekten schwirrten durch den blauen Lichtstreifen über ihnen. Ein weißer Falter landete auf ihrem Gesicht, krabbelte ihr über die Wange. Sie bemerkte es offenbar nicht, und Alec machte sie auch nicht darauf aufmerksam – er hatte nicht genügend Luft in der Lunge, um etwas zu sagen.
»Er glaubt, dass es ihnen gefällt, nur weil es ein Zeichentrickfilm ist«, flüsterte sie. »Ist es nicht sonderbar, dass er so begeistert von Filmen ist und doch so wenig von ihnen versteht? Lange hat er das Kino nicht mehr.«
Sie sah ihn an und lächelte. Ihre Zähne waren blutbefleckt. Alec konnte nicht aufstehen. Ein zweiter Falter – elfenbeinweiß – landete in ihrer Ohrmuschel.
»Deinem Bruder Ray hätte es gefallen«, sagte sie.
»Lassen Sie mich in Ruhe«, erwiderte er mit heiserer Stimme.
»Du gehörst hierher, Alec. Hierher zu mir.«
Endlich kam Bewegung in ihn, er stemmte sich hoch. Der erste Nachtfalter kroch in ihr Haar. Er meinte, sie stöhnen zu hören, ganz leise. Dann tastete er sich von ihr fort. Sie sah ihm nach. Er ging rückwärts den Gang entlang und stieß gegen das Bein eines Jungen. Ein lauter Schrei. Für einen Moment wandte er den Blick von ihr ab und musterte den dicklichen Jungen in dem gestreiften T-Shirt, der ihn wütend anstarrte – pass auf, wo du hinläufst, Idiot!
Alec sah wieder zu ihr. Sie war tief in den Sessel gesunken. Der Kopf lag auf der linken Schulter, die Beine waren lüstern gespreizt. Dicke, verkrustete Blutfäden hingen ihr aus der Nase und um die dünnen Lippen. Die Augen waren nach innen gerollt. Auf ihrem Schoß lag eine umgekippte Popcornschachtel.
Alec glaubte, gleich losschreien zu müssen. Doch er schrie nicht. Sie saß völlig regungslos da. Er wandte sich wieder dem Jungen zu, über den er fast gestolpert wäre. Der fette Junge blickte kurz zu der Toten hinüber, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen. Dann sah er mit verächtlich hochgezogenen Mundwinkeln Alec an.
»Sir«, sagte die Mutter des Jungen. »Gehen Sie doch bitte weiter. Wir würden gerne den Film sehen.«
Alec sah erneut zu der Toten, doch nun war ihr Sessel leer, der Sitz hochgeklappt. Er wich weiter zurück, stieß gegen Knie, stolperte, musste sich auf jemandem abstützen. Dann brach unter den Zuschauern plötzlich Jubel aus. Mit wild pochendem Herzen blickte sich Alec verwirrt um. Auf der Leinwand war endlich Micky aufgetaucht, in einem weiten roten Umhang.
Alec stolperte rückwärts den Gang hinauf, stieß die ledergepolsterten Flügeltüren auf und wankte ins Foyer. Die nachmittägliche Helligkeit ließ ihn blinzeln. Ihm war entsetzlich übel … Dann hielt ihn plötzlich jemand an der Schulter und führte ihn durch den Eingangsbereich zur Treppe, die sich auf Höhe des zweiten Rangs befand. Dort ließ er sich auf die unterste Stufe fallen.
»Lass dir Zeit«, sagte eine Männerstimme. »Tief durchatmen. Denkst du, du musst dich übergeben?«
Alec schüttelte den Kopf.
»Wenn du dich übergeben musst, dann warte bitte, bis ich dir eine Tüte geholt habe. Es ist nicht leicht, solche Flecken wieder aus dem Teppich zu bekommen. Außerdem haben die Leute keine Lust mehr auf Popcorn, wenn sie Erbrochenes riechen.«
Der Mann – wer immer er war – blieb noch einen Augenblick in seiner Nähe, drehte sich dann wortlos um und schlurfte davon. Nach ungefähr einer Minute kam er zurück.
»Hier. Auf Kosten des Hauses. Die Kohlensäure wird deinem Magen guttun. Aber trink langsam.«
Alec nahm den Pappbecher, der kalte Wassertropfen schwitzte, tastete mit dem Mund nach dem Strohhalm und schlürfte eiskalte Cola. Dann sah er hoch. Über ihn gebeugt stand ein großer Mann mit nach vorne gezogenen Schultern und einem speckigen Wulst um die Taille. Die dunklen Haare waren kurz geschnitten, die Augen, klein und farblos hinter absurd dicken Gläsern, glitten unruhig hin und her. Die Hose saß etwa in Höhe des Bauchnabels.
»Da drin ist ein totes Mädchen«, sagte Alec. Er erkannte die eigene Stimme kaum wieder.
Das Gesicht des Mannes wurde blass. Unglücklich blickte er Richtung Kinosaal. »Aber am Nachmittag ist sie noch nie erschienen. Ich dachte, sie käme immer nur zu den
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