Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
Vom Netzwerk:
Seite eine weitere Tür offen, und er konnte in die Küche sehen. Der Dicke stand mit bloßem Oberkörper hinter einer Arbeitsplatte. Der ganze Oberkörper war mit Tätowierungen bedeckt, und die Brustwarzen waren mit Eisenringen gepierct. Er zerkleinerte etwas mit einem Hackbeil, das wie Leber aussah. Carroll wollte ihm gerade etwas zurufen, als der Dicke zum Gasherd schlenderte, um in der Pfanne zu rühren. Jetzt trug er nur noch ein Suspensorium, und sein überraschend dürrer, blasser Hintern bebte bei jedem Schritt. Carroll zog sich in die Dunkelheit des Flurs zurück, und nach kurzem Zögern ging er auf leisen Sohlen weiter.
    Der Korridor hier unten war noch schiefer als der im Obergeschoss und offensichtlich völlig aus dem Lot geraten, so als wäre das Haus von einem Erdbeben durchgerüttelt worden, und seither passte die Vorder- nicht mehr zur Rückseite. Carroll hätte nicht sagen können, warum er nicht umkehrte – es war doch sinnlos, immer tiefer in dieses merkwürdige Haus hineinzustolpern. Aber seine Füße trugen ihn immer weiter.
    Er öffnete eine Tür zur Linken, kurz vor dem Ende des Flurs. Der Gestank und das wütende Summen der Fliegen ließen ihn zurückzucken. Unangenehme menschliche Wärme strömte heraus und über ihn hinweg. Es war ein Gästezimmer. Er wollte die Tür gerade wieder schließen, als er hörte, wie sich unter dem Betttuch etwas regte. Schnell hielt er sich Mund und Nase zu und zwang sich, einen Schritt näher zu treten und abzuwarten, bis sich seine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hätten.
    Auf dem Bett lag eine gebrechliche alte Frau mit einem Betttuch um die Leibmitte. Sie war nackt, und er hatte den Eindruck, dass er sie dabei überrascht hatte, wie sie sich streckte, die knochigen Arme über den Kopf erhoben.
    »Entschuldigung«, murmelte er und wandte den Blick ab. »Tut mir leid.«
    Er wollte die Tür wieder zumachen, doch dann zögerte er, sah noch einmal genauer hin. Erneut bewegte sich die alte Frau unter dem Betttuch. Ihre Arme hatte sie noch immer über dem Kopf ausgestreckt. Es war der Geruch, der ihn innehalten ließ, dieser unglaubliche Gestank. Fassungslos starrte er sie an.
    Als sich seine Augen schließlich an das Zwielicht gewöhnt hatten, sah er den Draht um ihre Handgelenke, der die Arme an das Kopfende des Bettes fesselte. Ihre Augen waren geschlitzt, und sie atmete schwer. Unter den faltigen, kleinen Säcken der Brüste zeichneten sich die Rippen ab. Fliegen schwirrten herum. Ihre Zunge zuckte heraus, sie leckte sich über die Lippen, aber sie sagte nichts.
    Und dann hastete Carroll auf steifen Beinen den Flur hinunter. Als er an der Küche vorbeikam, schien es ihm, dass der dicke Bruder hochblickte und ihn sah, aber davon ließ er sich nicht aufhalten. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Peter Kilrue auf dem oberen Treppenabsatz stand und mit fragend geneigtem Kopf auf ihn herabblickte.
    »Ich bring das Ding gleich rauf«, rief Carroll ihm zu, ohne aus dem Tritt zu kommen. Seine Stimme klang überraschend gelassen.
    Er erreichte die Haustür und stieß sie auf. Die Treppe nahm er eine Stufe nach der anderen. Wenn man vor jemandem wegläuft, durfte man niemals die Treppe hinunterspringen, sonst vertrat man sich den Fuß. Das hatte er in hundert Horrorfilmen gesehen. Die Luft war so eisig, dass sie ihm in der Lunge brannte.
    Eine Schuppentür stand offen. Als er vorbeieilte, warf er einen Blick hinein. Festgetretene Erde, rostige Ketten und Haken, die an Balken baumelten. An der Wand hing eine Kettensäge. Neben der Tischsäge stand ein großer knochiger Mann mit nur einer Hand; der andere Arm endete in einem Stumpf, die malträtierte Haut glänzend vor Narbengewebe. Er musterte Carroll, ohne ein Wort zu sagen, die farblosen Augen abschätzend und unfreundlich. Carroll lächelte ihm zu.
    Kurz darauf öffnete er die Tür seines Civic und ließ sich hinter das Steuer fallen – und im nächsten Augenblick spürte er, wie ihm panische Angst in die Brust fuhr. Sein Schlüsselbund war in der Jacke. Seine Jacke war im Haus. Fast hätte er vor Schreck laut aufgeschrien, doch als er den Mund öffnete, kam nur ein ängstliches Schluchzen heraus, beinahe wie ein Lachen. Auch das hatte er in Hunderten von Horrorfilmen gesehen, in unzähligen von Horrorgeschichten gelesen: Nie hatten sie ihren Schlüssel, oder der Wagen sprang nicht an, oder …
    Der einhändige Bruder tauchte in der Tür des Schuppens auf und starrte ihn über die Auffahrt hinweg an.

Weitere Kostenlose Bücher