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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Aussehen und ihr Lachen – sie hatte einfach das Zeug dazu. Es hätte nur mal jemand eine Kamera auf sie richten müssen, und sie wäre berühmt geworden.«
    Nachdem Alec den kurzen Text gelesen hatte, hob er den Kopf und rieb die Ecken des Zeitungsausschnitts zwischen Daumen und Zeigefinger. Das alles war so ungerecht, dass er einen Moment lang einen starken Druck hinter den Augen spürte, als müsse er gleich losheulen. Er wollte nicht in einer Welt leben, in der ein neunzehnjähriges Mädchen voller Lebensfreude einfach so, ohne jeden Grund, starb. Die Intensität seiner Gefühle war ihm jedoch nicht ganz geheuer, denn schließlich war er ihr ja nie begegnet, zumindest nicht, als sie noch am Leben war. Er grübelte darüber nach, bis ihm Ray einfiel und der Brief von Harry Truman an seine Mutter: »ist tapfer im Kampf für die Freiheit gefallen … Amerika ist stolz auf ihn«. Er musste daran denken, wie Ray ihn in Alarm im Pazifik mitgenommen hatte, in genau dieses Kino, wie sie Schulter an Schulter gesessen hatten, die Füße auf den Sitzen vor ihnen. »Sieh dir diesen John Wayne an«, hatte sein Bruder gesagt. »Die brauchen einen Bomber für ihn und noch mal einen für seine Eier.« Das Jucken in Alecs Augen war jetzt so heftig, dass er es nicht mehr länger aushielt. Er rieb sich über die feuchte Nase und konzentrierte sich mit aller Macht darauf, so leise wie möglich zu weinen.
    Schließlich trocknete er sich mit dem Ärmel die Augen, legte den Nachruf auf Parcells’ Schreibtisch und blickte sich um, betrachtete die Poster und die Filmdosen. In einer Ecke des Zimmers entdeckte er ein Stück Film. Etwa acht Einzelbilder. Woher das wohl stammt, fragte er sich und hob es auf, um es sich näher anzusehen. Er erkannte ein junges Mädchen, das mit geschlossenen Augen den Kopf hob, um – jeder Moment ihrer Bewegung für immer festgehalten – hingebungsvoll einen Mann zu küssen, der sie in den Armen hielt. Alec wollte auch so geküsst werden, irgendwann einmal … Jedenfalls hatte es einen seltsamen Reiz, ein Stück echten Film in Händen zu halten. Aus einer Eingebung heraus steckte er es in die Hosentasche.
    Dann verließ er das Büro, blieb auf dem Treppenabsatz stehen und warf einen Blick ins Foyer. Eigentlich hatte er erwartet, Parcells hinter dem Verkaufsstand mit einem Kunden zu sehen, aber da war niemand. Wohin mochte er wohl gegangen sein? Während er noch darüber nachdachte, hörte Alec ein leises Surren, das von oben kam. Dann ein Klicken. Parcells wechselte gerade die Rollen.
    Alec stieg die Treppe hinauf und betrat den Vorführraum, eine düstere Kammer mit niedriger Decke und zwei quadratischen Fenstern. Der Projektor war auf eines dieser Fenster gerichtet: ein riesiger Apparat aus matt schimmerndem Edelstahl, auf dessen Gehäuse VITAPHONE eingraviert war. Parcells stand neben dem Gerät und sah weit nach vorne gebeugt durch das Fenster, durch das der Lichtstrahl des Projektors flirrte. Er hörte Alec hereinkommen und warf ihm einen Blick zu. Alec rechnete damit, hinausgeschickt zu werden, doch Parcells sagte nichts, sondern nickte nur und setzte seine schweigende Wache fort.
    Sorgsam darauf achtend, in der Dunkelheit nicht über irgendetwas zu stolpern, ging Alec zu dem anderen Fenster. Er zögerte kurz, wusste nicht, ob er es wagen sollte, dann beugte er sich zur Scheibe hinab und spähte in den dunklen Saal.
    Das Bild auf der Leinwand tauchte das Kino in ein dunkles Mitternachtsblau – wieder waren Dirigent und Orchester als Silhouetten zu sehen. Der Ansager führte gerade in den nächsten Abschnitt des Films ein. Alec suchte die Sitzreihen ab, fand den Platz, an dem er gesessen hatte. Beinahe erwartete er, sie dort zu sehen, tief im Sessel versunken, das blutverschmierte Gesicht zur Decke gewandt – ja, vielleicht würde sie sogar zu ihm blicken … Bei diesem Gedanken empfand er Furcht und eine sonderbare, nervöse Euphorie zugleich, und als ihm klar wurde, dass sie nicht mehr da war, war er beinahe ein wenig enttäuscht.
    Musik setzte ein. Erst die vibrierenden Klänge der Geigen, die wie Wellenbewegungen anstiegen und wieder fielen, dann die bedrohlich, fast militärisch klingenden Bläser. Alec sah wieder nach vorne zur Leinwand … und ein Schauer durchfuhr ihn. Auf der Leinwand erhoben sich die Toten aus ihren Gräbern – eine Armee weißer, flackernder Gespenster – und strömten in die Nacht hinaus. Ein breitschultriger Dämon, der auf dem Gipfel eines Berges saß, rief sie zu

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