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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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sich. Und sie kamen alle, die abgezehrten Körper in zerfetzte Leichentücher gehüllt, die Gesichter voll Trauer und Schmerz. Alec hielt den Atem an, erschrocken, fasziniert von dem Geschehen.
    Jetzt trieb der Dämon einen Spalt in den Berg, und das Tor zur Hölle öffnete sich. Flammen schossen heraus, die Verdammten hüpften und tanzten, und Alec wurde klar, dass das, was er da sah, vom Krieg handelte. Von seinem Bruder, der sein Leben im Südpazifik gelassen hatte, ohne jeden Grund, aber: »Amerika ist stolz auf ihn …« Von Menschen, deren Verletzungen nicht heilen würden, deren aufgeblähte Leichen hierhin und dorthin trieben, bis die Brandung sie an einen Strand irgendwo im fernen Osten spülte. Von Imogene Gilchrist, deren Eltern Colm und Mary hießen, die das Kino geliebt hatte, die mit gespreizten Beinen und dem Kopf voller Blut im Alter von neunzehn Jahren gestorben war. Von jungen Menschen, jungen, gesunden Menschen, die durchlöchert wurden und deren Leben entwich, ohne dass sie auch nur einen Traum, einen einzigen Plan hätten verwirklichen können. Von Menschen, die liebten und geliebt wurden, die fortgingen und nie zurückkehrten. Von »Im Gebet bin ich heute bei Ihnen, Harry Truman« und »Ich habe mir immer gedacht, dass sie einmal ein Filmstar wird«.
    Irgendwo weit weg läutete eine Kirchenglocke. Verwirrt blickte Alec hoch, begriff, dass das zum Film gehörte. Die Toten schwanden dahin. Der breitschultrige Dämon hüllte sich in seine riesigen schwarzen Flügel, verbarg sein Gesicht vor dem anbrechenden Tag. Eine lange Reihe von Männern, in Roben gehüllt, mit schwach leuchtenden Fackeln in den Händen, zog über eine Ebene. Sanft wogende Musik begleitete sie. Der Himmel schimmerte in kaltem Blau, wurde allmählich heller, bis schließlich die Glut des Sonnenaufgangs durch Birken- und Kiefernzweige blinzelte. Der Film war zu Ende.
    » Dumbo hat mir besser gefallen«, sagte Parcells.
    Er legte einen Schalter um, und eine nackte Glühbirne leuchtete auf, erfüllte den Vorführraum mit grellem weißem Licht. Die letzten Zentimeter des Films ratterten durch den Projektor und kamen am anderen Ende heraus, wo sie auf eine zweite Rolle aufgespult wurden. Mit einem klatschenden Geräusch drehte sich das lose Ende weiter, bis Parcells den Apparat ausschaltete und Alec ansah.
    »Du siehst besser aus. Hast wieder etwas Farbe.«
    »Über was wollten Sie mit mir sprechen?« Alec erinnerte sich an Parcells’ warnenden Blick, als dieser ihm gesagt hatte, er solle noch nicht fortgehen. Wusste der Kinobesitzer womöglich, dass er sich ohne Eintrittskarte hereingeschlichen hatte?
    »Ich gebe dir entweder dein Geld zurück oder zwei Freikarten. Mehr ist nicht drin.«
    Alec starrte Parcells an. Es dauerte eine ganze Weile, bis er zu einer Antwort fähig war. »Aber wofür denn?«
    »Wofür? Damit du den Mund hältst. Kannst du dir nicht vorstellen, was es für mein Kino bedeuten würde, wenn sich diese Sache rumspricht? Die Leute werden nicht sonderlich scharf darauf sein, ihr Geld hinzublättern, um mit einer redseligen Toten im Dunkeln zu sitzen.«
    Alec dachte nach. Er war anderer Meinung. Er glaubte nicht, dass die Leute wegbleiben würden, wenn sich herumspräche, dass es im Rosebud spukte. Ganz im Gegenteil: Sie würden liebend gerne dafür bezahlen, sich im Finstern ein wenig zu gruseln. Wozu gab es denn sonst diese ganzen Horrorfilme? Und dann fiel ihm ein, was Imogene Gilchrist über Harry Parcells gesagt hatte: Lange hat er das Kino nicht mehr.
    »Was willst du also? Freikarten?«
    Alec schüttelte den Kopf.
    »Also das Geld?« Parcells zog sein Portemonnaie aus der Hosentasche.
    »Nein.«
    Parcells hielt inne, warf Alec einen überraschten Blick zu. »Was dann?«
    »Wie wäre es mit einem Job? Sie brauchen doch jemanden, der Popcorn verkauft. Ich verspreche auch, meine Haftnägel nicht bei der Arbeit zu tragen.«
    Der Kinobesitzer sah Alec eine Weile schweigend an. Dann steckte er das Portemonnaie wieder weg. »Kannst du auch am Wochenende arbeiten?«
     
    Im Oktober erfährt Alec, dass Steven Greenberg wieder in New Hampshire ist, um auf dem Gelände der Phillips Exeter Academy Außenaufnahmen für seinen neuen Film zu drehen – irgendwas mit Tom Hanks und Haley Joel Osment, ein missverstandener Lehrer, jugendliche Genies, die eine schwierige Phase durchmachen, und so weiter. Alec muss gar nicht mehr wissen, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass Steven damit auf einen weiteren Oscar zusteuert.

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