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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Frau, die Stück für Stück an nicht nachlassenden Schuldgefühlen zugrunde ging, weil sie überlebt hatte. Sie handelte von qualvollen familiären Beziehungen, beschissenen Jobs und den Schwierigkeiten, Geld zu verdienen. Carroll hatte vergessen, wie es war, in einer Kurzgeschichte mit den Widrigkeiten des Alltags konfrontiert zu werden; die meisten Horrorautoren gaben sich damit gar nicht erst ab – sie hatten nichts anderes als rohes, blutiges Fleisch im Sinn.
    Er ertappte sich dabei, wie er in seinem Arbeitszimmer mit »Buttonboy« in der Hand hin und her lief, viel zu aufgeregt, um sich hinzusetzen. Als er einen Blick auf sein Spiegelbild im Fenster warf, sah er sich auf eine fast schon unanständige Art und Weise grinsen – so als hätte er gerade einen besonders schmutzigen Witz gehört.
    Carroll war elf gewesen, als er im Oregon Bis das Blut gefriert gesehen hatte. Er war zusammen mit seinen Cousins dort gewesen, doch als die Lichter ausgingen, wurden sie von der Finsternis verschluckt, und Carroll war auf einmal völlig allein, gefangen in einer erdrückenden Kammer des Schreckens. Immer wieder musste er sich zusammennehmen, nicht die Hände vor die Augen zu halten. Andererseits war er auch zutiefst aufgewühlt und verspürte mit wohligem Schauer ein nervöskrankhaftes Kribbeln. Als die Lichter schließlich wieder angingen, vibrierten seine Nervenenden, als hätte er einen Moment lang einen Kupferdraht angefasst, der unter Strom stand. Nach genau diesem Gefühl war er süchtig geworden.
    Später, als er das Grauen zu seinem Beruf gemacht hatte, waren seine Empfindungen etwas gedämpfter geworden – sie verschwanden nicht ganz, aber sie wurden schwächer, wie Erinnerungen an Gefühle, nicht wie Gefühle selbst. Doch in letzter Zeit waren ihm sogar diese Erinnerungen abhandengekommen, und an ihre Stelle war ein allmählicher Gedächtnisschwund, ein dumpfes Desinteresse getreten, sobald er die Magazinstapel auf seinem Couchtisch betrachtete. Mitunter graute es ihm, doch das war nicht das Grauen, das er suchte.
    Aber das eben, hier in seinem Arbeitszimmer, direkt nach den Verheerungen von »Buttonboy« – das war ein echter Kick gewesen. Die Story hatte einen Ton in seinem Inneren angeschlagen, der immer noch nachhallte. Er konnte sich einfach nicht beruhigen, da er so eine Begeisterung nicht mehr gewöhnt war. Er fragte sich, wann er – wenn überhaupt – zuletzt eine Geschichte veröffentlicht hatte, die ihm so gut gefiel wie »Buttonboy«. Er ging zum Regal und zog den ersten Band von Best New Horror heraus (seiner Meinung nach bis heute unübertroffen), weil er wissen wollte, was ihn damals begeistert hatte. Auf der Suche nach dem Inhaltsverzeichnis stieß er jedoch auf die Widmung, die seiner damaligen Frau Elizabeth galt. »Für ihre Hilfe, meinen Weg in der Dunkelheit zu finden«, hatte er in einem verrückten Anfall von Zuneigung geschrieben. Als er das jetzt wieder sah, bekam er eine Gänsehaut.
    Elizabeth hatte ihn verlassen, nachdem er herausgefunden hatte, dass sie schon über ein Jahr lang eine Affäre mit ihrem Anlageberater hatte. Sie war zu ihrer Mutter gezogen und hatte Tracy mitgenommen.
    »Eigentlich bin ich froh, dass du uns auf die Schliche gekommen bist«, sagte sie zu ihm am Telefon, einige Wochen, nachdem sie sich aus seinem Leben verabschiedet hatte. »Jetzt ist es wenigstens vorbei.«
    »Was, deine Affäre?«, fragte er. Wollte sie ihm etwa erzählen, dass sie mit diesem Kerl Schluss gemacht hatte?
    »Nein. Ich meine diesen ganzen Horrorscheiß, all die Leute, die dich immer besucht haben, diese verschwitzten kleinen Gnome, die sich an Leichen aufgeilen. Das ist für uns das Beste. Vielleicht hat Tracy jetzt eine Chance auf eine unbeschwerte Kindheit, und ich kann endlich mal ein paar gesunde, stinknormale Erwachsene kennenlernen.«
    Es war schlimm genug, dass sie ihn betrogen hatte, aber dass sie ihm Vorwürfe wegen Tracy machte, verschlug ihm noch heute vor Hass den Atem. Er warf das Buch gegen das Regal und trottete in die Küche, um etwas zu Mittag zu essen. Seine Rastlosigkeit hatte sich allmählich gelegt. Er hatte nach einer Möglichkeit gesucht, all die nutzlose, verstörende Energie loszuwerden. Die gute alte Lizzie – sie war immer noch zu etwas gut, obwohl sie sechzig Meilen weit weg war und mit einem anderen Mann das Bett teilte.
     
    An jenem Nachmittag schrieb er eine E-Mail an Harold Noonan und bat ihn um die Kontaktadresse von Peter Kilrue. Keine Stunde später

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