Black Cats 01. Was kostet der Tod
warum. Wollte sie wirklich, dass er glaubte, sie würde eine schlechte Mutter für seine eigenen Kinder abgeben?
»Das ist lieb von dir«, flüsterte sie und küsste ihn auf den Mund. »Ich geh ihn suchen.«
»Wir können zusammen gehen«, bot er ihr an und hob ihre Hand an seine Lippen. Was für ein Gentleman! Und ganz eindeutig ein lieber Kerl. Sie hatte ihn überhaupt nicht verdient, und das wusste sie.
Jerry ging zurück, um eine Taschenlampe zu holen, und war einen Augenblick später wieder bei ihr. Dann nahm er ihre Hand und führte sie in den Wald, der noch hell und fröhlich gewesen war, als sie vor einigen Stunden das Zelt aufgebaut hatten. Jetzt war er dunkel und voller Schatten, und das dichte Laub über ihnen verdeckte die Sterne, die nach und nach am Himmel zu sehen waren.
Verflucht! Vielleicht hatte sich der Junge wirklich verirrt. Sie hatte ihm gesagt, dass er eine Taschenlampe mitnehmen sollte, aber sie hatte nicht nachgeprüft, ob er sie wirklich eingesteckt hatte. Als er vor einer halben Stunde losgelaufen war, hatte es gerade erst gedämmert. Jetzt war aus dem Tag ziemlich schnell Nacht geworden.
»Ihm ist doch bestimmt nichts passiert, nicht wahr?«, fragte sie und spürte zum ersten Mal Sorge in sich aufsteigen.
»Natürlich nicht.« Aber Jerry klang nicht so richtig sicher.
»Es gibt hier keine Bären oder so was, oder?«
»In Virginia?« Er lachte. »Ziemlich unwahrscheinlich.«
Dann bogen sie um die Ecke des kleinen Betonhäuschens, und sein Lachen erstarb. Sie folgte seinem Blick und entdeckte Nickys Baltimore-Orioles-Baseballkappe auf dem Boden. Daneben lag seine Taschenlampe, die immer noch brannte. Sie rollte langsam hin und her, getrieben vom Nachtwind. Ganz in der Nähe entdeckte sie einen dunklen Fleck und dann noch einen.
Öl? Es dauerte einen Augenblick, bis sie verarbeitet hatte, was sie da sah. Kein Öl. Als die Taschenlampe noch ein Stück weiterrollte und über das trockene Laub knisterte, das es auf den Betonweg geweht hatte, fiel ein Lichtstrahl auf die Flecken.
Sie waren nicht schwarz. Sie waren rot.
Tammy begann zu schreien.
15
Als sie vor über zwei Jahren nach Hope Valley zurückkehrte, war Stacey überzeugt, dass sie nie wieder einen Mordfall würde bearbeiten müssen. Wenn sie doch nur recht behalten hätte. Denn sie hätte liebend gerne darauf verzichtet, sich mit dem Albtraum auseinanderzusetzen, der in dem trostlosen kleinen Haus der Freeds stattgefunden hatte.
Sie hatte den gesamten Abend dort verbracht, zusammen mit dem Bezirksgerichtsmediziner und einem Spurensicherer des Bundesstaates. Hope Valley hatte für solche Fälle einfach nicht das nötige Personal.
Winnie war ins Krankenhaus gekommen, wo sie untersucht wurde. Sie hatte beim Atmen ein sonderbares Pfeifgeräusch von sich gegeben, und Stacey vermutete, dass Stan ihr eine oder zwei Rippen gebrochen hatte, bevor sie ihn getötet hatte. Stacey musste morgen früh für ein formales Verhör zu ihr fahren und sie in Gewahrsam nehmen. Aber sie hatte bereits beim Staatsanwalt in Front Royal angerufen und ihm die Situation erklärt. Sie bezweifelte, dass Winnie wegen Mordes angeklagt werden würde. Vielleicht wegen fahrlässiger Tötung, wenn’s hochkam. Und wenn man die mildernden Umstände in Betracht zog, konnte sie sich nicht vorstellen, dass Winnie tatsächlich ins Gefängnis musste.
Dean und die beiden anderen Special Agents hatten angeboten, sie zu unterstützen, wo sie konnten. Stacey hatte das Angebot abgelehnt. Sie hatten einen anderen Auftrag, bei dem Stacey ihnen momentan nicht behilflich sein konnte. Soviel sie wussten, war der Sensenmann bereits auf der Suche nach seinem nächsten Opfer.
Oder, noch schlimmer, hatte es bereits gefunden.
Sie hatten nicht die Zeit, um sich mit einem belanglosen Mordfall herumzuschlagen. Vor allem nicht mit einem Fall, der sich gleich, nachdem er gemeldet worden war, buchstäblich von selbst gelöst hatte. Die noch qualmende Waffe in der Hand der missbrauchten Ehefrau – eindeutiger ging es fast nicht.
Zusammen mit den Experten, die im Laufe des Abends aufgekreuzt waren, erledigte sie also ihre Arbeit und durchlief wie selbstverständlich alle erforderlichen Schritte – sie waren ihr so vertraut, als wären sie ihr täglich Brot. Stacey fragte sich, was Dean wohl davon halten würde?
Was er zu ihr gesagt hatte, als sie bei ihrem Vater gewesen waren, ließ sie nicht mehr los. Den ganzen Abend über hallten ihr seine Worte immer wieder durch den Kopf.
Weitere Kostenlose Bücher