Black CATS - Parrish, L: Black CATS
was der Wärter wohl sagen würde, wenn er feststellte, dass das Ganze ein Missverständnis war. Denn genau das musste es sein. Jesse hatte keine neue Anwältin.
Oder vielleicht doch. Man weiß ja nie.
Vielleicht war das wirklich eine gute Neuigkeit. Früher oder später hatte doch jeder mal eine Glückssträhne, oder? Vielleicht war er jetzt an der Reihe. Vielleicht war es endlich jemandem aufgefallen, dass er verdammt ungerecht behandelt worden war, und jetzt kamen sie, um alles wieder in Ordnung zu bringen.
»Dann schwing die Hufe.«
Er durchquerte den Kraftraum, ohne den Blicken seiner Mithäftlinge Beachtung zu schenken. Scheiß auf die. Selbstgerechte Wichser. Die schlitzten einer alten Oma den Hals auf oder legten einen Ladenbesitzer wegen ein paar Mäusen um und hielten sich trotzdem für was Besseres? Fanden ihn krank und abartig? Verflucht, wenigstens war er kein kaltblütiger Mörder.
Während Kildare ihn zu einem der Besprechungsräume führte, die von Häftlingen und ihren Anwälten benutzt wurden, machte er sich schon mal auf den Zorn des Wärters gefasst. Es war nicht Jesses Schuld, dass irgendjemand Mist gebaut und das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, er hätte eine neue Verteidigerin. Aber Kildare würde ihn so oder so dafür verantwortlich machen, dass er seinen speckigen Hintern völlig umsonst durch die Gänge geschoben hatte.
Als sie das Zimmer erreichten, konnte er es sich nicht verkneifen, einen Blick durch das vergitterte Fenster zu werfen, um sich zu vergewissern, dass dort tatsächlich eine Frau saß und er nicht geradewegs in eine Geburtstagsparty der Wärter hineinspazierte, bei der er die Piñata abgeben sollte.
Sie war wirklich da. Sah ganz schön prüde und hochnäsig aus, mit einem schicken Hosenanzug, die Haare streng zusammengebunden. Als er eintrat, schaute sie ihn über den Rand ihrer kleinen silbernen Brille hinweg an, deren Gläser wie zwei Dreiecke geformt waren, und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Sie sind Jesse Boyd?«
Er konnte immer noch nicht ganz fassen, dass sie wirklich seinetwegen hier war, und nickte bloß.
»Setzen Sie sich.«
Als er zögerte, stieß Kildare ihm in den Rücken. Die arrogante Anwältin richtete den Zeigefinger auf den Wärter und fauchte: »Beherrschen Sie sich – oder ich sorge dafür, dass Sie nie wieder Hand an einen Häftling legen.«
Alles klar. Die Tussi gefiel ihm, wer immer sie sein mochte.
Kildare war eindeutig wütend, trat aber dennoch ein paar Schritte zurück und blieb an der Wand stehen.
Jesse setzte sich. »Worum geht’s denn überhaupt?«
Die Frau beachtete ihn nicht, sondern zog eine Mappe aus ihrer Aktentasche und schlug sie auf. Dann nahm sie einen Stift zur Hand, kritzelte etwas auf einen Notizblock, strich es durch und kritzelte etwas anderes darunter. Ohne den Blick zu heben, bemerkte sie knapp: »Sie haben einen Bluterguss.«
Geistesabwesend rieb Jesse sich den Unterarm.
»War es ein Wärter?«
»Nee.« Diesmal jedenfalls nicht.
»Versuchen Sie, sich aus Prügeleien rauszuhalten. Bis wir hiermit fertig sind, sollten Sie sich wie ein Musterknabe aufführen.«
»Bis wir womit fertig sind?«
Sie hob schließlich doch den Blick. »Mit Ihrer Berufung natürlich.«
»Hoppla, immer langsam, gute Frau. Wer zum Teufel sind Sie eigentlich?«
»Mein Name ist Claire Vincent. Ich arbeite für die Anwaltskanzlei Bradley, Miles & Cavanaugh in Virginia, aber wir haben auch Büros im Großraum von D. C. Ich habe eine Zulassung für Maryland und wurde beauftragt, Sie hier rauszuholen.«
Jesse warf einen Blick zu Kildare, der eine Partie Taschenbillard spielte, während er der hübschen Anwältin auf den Rücken starrte. Dann beugte Jesse sich ein wenig über den Tisch. »Ich habe mir keinen neuen Anwalt genommen. Hat meine Ma Sie beauftragt?«
»Nein. Die Person, die mich beauftragt hat, ist für uns erst einmal von marginalem Interesse.«
»Hä?«
»Ich meine«, erklärte sie und legte den Stift endgültig aus der Hand, »dass ich für jemanden arbeite, der eine starke Abneigung gegen Ungerechtigkeit hat. Ihr Wohltäter ist der Ansicht, dass Sie ungerecht behandelt wurden, und hat mich gebeten, mir den Fall anzusehen. Das habe ich inzwischen auch getan.«
Ungläubig starrte Jesse sie an.
»Ich bin ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass die Gerichtsverhandlung in Ihrem Fall nicht fair gelaufen ist. Sie hatten die schlechtest mögliche Verteidigung, und alle Welt hatte Sie bereits verurteilt, bevor Sie auch nur
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