Black Dagger 10 - Todesfluch
Einzelteile, die er bisher nur als Fragmente gesehen hatte: Der Traum war im realen Leben angekommen.
»Nein!«, schrie er.
Die Szene spielte sich in wenigen Sekunden ab, die jedoch Jahrhunderte zu dauern schienen: Rhage sah ihn an, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Jane rannte über das Gras. Er ließ das Mhis sinken, als die Angst ihn überwältigte.
Ein Lesser duckte sich mit gezogener Pistole unter dem Garagentor durch.
Der Schuss machte wegen des Schalldämpfers kein Geräusch. V sprang auf Jane zu, versuchte, sie mit seinem Körper abzuschirmen. Er schaffte es nicht. Sie wurde in den Rücken getroffen, und die Kugel kam auf der anderen Seite wieder heraus, durchbrach ihr Brustbein, bohrte sich in seinen Arm. Er fing sie auf, als sie stürzte, seine eigene Brust brannte vor Schmerz.
Als sie zu Boden sanken, nahm Rhage die Verfolgung des Lesser auf, was V nicht bewusst wahrnahm. Er erkannte nur
seinen ewigen Alptraum: Blut auf seinem Shirt. Sein Herz brüllend vor Schmerz. Der Tod kam … aber nicht für ihn. Für Jane.
»Zwei Minuten«, stieß sie mühsam hervor und legte die Hand auf die Brust. »Mir bleiben weniger als zwei … Minuten. «
Der Schuss musste eine Arterie getroffen haben, und sie wusste es.
»Ich bringe dich – «
Sie schüttelte den Kopf und hielt sich an seinem Arm fest. »Bleib. Ich … das schaffe …«
Ich nicht … wollte sie sagen. »Doch, verdammt!«
»Vishous!« Ihre Augen schwammen, sie verlor rasch an Farbe. »Halt meine Hand. Verlass mich nicht. Du darfst mich nicht … Lass mich nicht allein gehen.«
»Du wirst wieder gesund!« Er wollte sie aufheben. »Ich bringe dich zu Havers.«
» Vishous. Das kann man nicht reparieren. Halt meine Hand. Ich gehe … ach, verflucht …« Sie begann zu weinen, während sie nach Luft rang. »Ich liebe dich.«
»Nein!«
»Ich liebe …«
»Nein!«
27
Die Jungfrau der Schrift blickte von dem Vogel auf ihrer Hand auf, ein plötzliches Angstgefühl erschreckte sie.
O elendes Geschick. O grausames Schicksal.
Es war geschehen. Das Ereignis, das sie geahnt und gefürchtet hatte, der Zusammenbruch in der Anordnung ihrer Realität war gekommen. Ihre Bestrafung war nun manifest.
Dieser Mensch … diese Frau, die ihr Sohn liebte, starb in diesem Augenblick. Sie lag in seinem Armen und verblutete.
Mit zitternder Hand setzte sie die kleine Meise zurück auf den weiß blühenden Baum und taumelte zum Springbrunnen. Dort ließ sie sich auf der marmornen Kante nieder, ihr leichtes Gewand fühlte sich an wie schwere Ketten, die um sie geschnürt wurden.
Die Schuld für den Verlust ihres Sohnes lag bei ihr. Wahrlich, sie hatte diese Heimsuchung heraufbeschworen: Denn
sie hatte die Regeln gebrochen. Vor dreihundert Jahren hatte sie die Regeln gebrochen.
Zu Anbeginn der Zeit war ihr ein einziger Schöpfungsakt gewährt worden, und entsprechend hatte sie, nachdem sie ihre Reife erlangt hatte, einen Schöpfungsakt gewirkt. Doch dann hatte sie es noch einmal getan. Sie hatte geboren, was sie nicht hätte gebären dürfen, und dadurch hatte sie einen Fluch auf ihren Nachkommen gebracht. Das Schicksal ihres Sohnes – in seiner Gesamtheit, von seiner Misshandlung durch seinen Vater über den harten, kaltherzigen Mann, zu dem Vishous geworden war, bis hin zu diesen seinen Todesqualen – war ja in Wahrheit ihre Züchtigung. Denn wo er Schmerz empfand, litt sie tausendfach. Sie wollte nach ihrem Vater rufen, doch sie wusste, sie konnte es nicht. Die Entscheidung war von ihr getroffen worden, und die Folgen hatte sie allein zu tragen.
Als sie nun die Dimensionen durchdrang und sah, was ihrem Sohn geschah, erfuhr sie Vishous’ Qualen wie ihre eigenen, spürte die Betäubung seines Entsetzens, das Feuer seiner Verleugnung. Sie spürte auch den Tod seiner Geliebten, die wachsende Kälte in ihrem Leib, während ihr Blut in ihre Brusthöhle floss und ihr Herz zu flimmern begann. Und dann, ja, dann hörte sie auch die von ihrem Sohn gemurmelten Worte der Liebe und roch die scheußliche, ekelhafte Furcht, die ihm entströmte.
Es gab nichts, was sie tun konnte. Sie, die doch Macht über alles Maß hinaus besaß, war in diesem Augenblick machtlos, da das Schicksal und die Folgen des freien Willens die alleinige Domäne ihres Vaters waren. Er und nur er kannte den Ablauf der Ewigkeit, das Kompendium der gewählten und nicht gewählten Entscheidungen, die sichtbaren und unsichtbaren Pfade. Er war das Buch und die Seite und die unauslöschliche
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