Black Dagger 12 - Vampirträume
den Krieg gezogen und tödlich verwundet worden war.
Es war eigenartig, dachte John. Zuerst hatte er sich gewünscht, der Bruder würde sofort aufwachen, doch jetzt hatte er Angst, Tohrs Augen offen zu sehen. Er wusste nicht, ob er ertragen könnte, darin die Abgrenzung zu erkennen. Klar, verständlich wäre das, nach allem, was Tohr verloren hatte, aber … es würde ihn umbringen.
Außerdem würde John, solange Tohr noch schlief, nicht in Tränen ausbrechen.
Denn es war ein Geist im Raum. Ein wunderschöner, rothaariger Geist mit einem rundlichen, schwangeren Bauch: Wellsie war bei ihnen. Trotz ihres Todes war sie bei ihnen, genau wie ihr ungeborenes Kind. Und Tohrs Shellan wäre nie weit fort. Man konnte ihn unmöglich betrachten, ohne sie ebenfalls zu sehen. Die beiden waren im Leben unzertrennlich gewesen, und das waren sie auch im Tod. Und obwohl Tohrment noch atmete, war er nicht mehr am Leben, so viel war sicher.
»Bist du das?«
Johns Blick schnellte zum Bett.
Tohr war wach und musterte ihn in dem gedämpften Licht.
Langsam stand John auf und zog sein T-Shirt und die Jeans glatt. Ich bin’s, John. John Matthew.
Tohr erwiderte nichts, er betrachtete ihn nur von oben bis unten.
Ich bin durch die Transition gegangen, sagte er überflüssigerweise.
»Du hast jetzt ungefähr Darius’ Format. Sehr groß.«
Mein Gott, die Stimme war genau, wie er sie in Erinnerung hatte. Tief wie die Bässe einer Kirchenorgel und ebenso gebieterisch. Doch einen Unterschied gab es; in den Worten lag nun etwas Hohles.
Oder vielleicht entstammte das der Leere hinter den blauen Augen.
Ich brauchte neue Kleider.
Verflixt, er benahm sich wie der letzte Trottel. Hast du … hast du Hunger? Ich habe Roastbeef-Sandwichs. Und diese Kekse von Pepperidge Farm, die du immer so gern mochtest …
»Nein, danke.«
Soll ich dir was zu trinken geben? Hier steht eine Thermoskanne Kaffee.
»Nein.« Tohr schielte zum Badezimmer. »Wahnsinn, eine richtige Toilette. Hatte ich lange nicht. Und nein, ich brauche keine Hilfe.«
Es war schmerzlich, ihm zuzusehen – eine Szene aus einer Zukunft, die John erst in hunderten und aberhunderten von Jahren zu erleben geglaubt hatte: Tohrment als alter Mann.
Der Bruder legte eine zitternde Hand auf die Decke und zog sie Zentimeter für Zentimeter von seinem nackten Körper. Er hielt inne. Dann schob er die Beine zur Seite, bis sie über die Bettkante hingen. Eine weitere Pause, bevor er sich hochhievte, die einst so breiten Schultern hielten das Gewicht, das kaum schwerer als ein Skelett war, nur mühsam aufrecht.
Er lief nicht; er schlurfte wie ein Greis, den Kopf gesenkt, das Rückgrat gen Boden gekrümmt, die Hände erhoben, als rechnete er jeden Augenblick damit, zu stürzen.
Die Tür wurde ins Schloss gezogen. Die Toilette spülte mit einem Gurgeln. Die Dusche rauschte.
John setzte sich wieder in den Sessel, in dem er gesessen hatte. Sein Magen fühlte sich leer an, und das nicht nur, weil er seit der vorhergehenden Nacht nichts mehr gegessen hatte. Er wusste vor Sorge weder aus noch ein. Bange Befürchtungen waren der Atem, den er in seinen Brustkorb sog. Beklemmung sein Herzschlag selbst.
Das hier war die Kehrseite der Eltern-Kind-Beziehung. Auf der der Sohn sich um den Vater ängstigte.
Vorausgesetzt, er und Tohr hatten immer noch diese Art von Verbindung.
Er war sich nicht sicher. Der Bruder hatte ihn angesehen wie einen Fremden.
John zählte mit dem Fuß die Sekunden ab; nervös rieb er sich die Handflächen auf den Oberschenkeln. Seltsam, alles andere, was passiert war – sogar die Sache mit Lash –, kam ihm unwirklich und unbedeutend vor. Es gab nur das Hier und Jetzt.
Als die Tür sich nach fast einer Stunde wieder öffnete, wurde er ganz still.
Tohr trug einen Bademantel und seine Haare waren weitgehend entfilzt, wenn auch der Bart immer noch zottelig aussah.
Mit seinen schlurfenden, unsicheren Schritten arbeitete sich der Bruder zum Bett zurück und streckte sich mit einem Stöhnen darin aus. Unbeholfen kuschelte er sich in die Kissen.
Kann ich irgendetwas –
»Hier wollte ich nicht enden, John. Ich werde dir nichts vormachen. Hier … möchte ich nicht sein.«
Okay, gab John zurück. Okay.
Die Stille dehnte sich aus, und John führte das Gespräch, das er eigentlich mit Tohr führen wollte, im Geiste: Qhuinn und Blay wohnen jetzt hier. Qhuinns Eltern sind tot, und Lash ist … ich weiß nicht, was ich über ihn sagen soll … Es gibt da eine Frau, die mir
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