Black Dagger 13 - Racheengel
sie ihr Mitgefühl ausgedrückt hatte, schüttelte sie den Kopf. »Ich möchte dir eigentlich nicht mit Arbeit kommen...«
»Doch, bitte«, platzte Ehlena heraus.
Die Schwester lächelte respektvoll, als wäre sie von Ehlenas Haltung beeindruckt. »Naja, er ist hinten in einem Behandlungszimmer. Soll ich eine Münze holen?«
Alle stöhnten. Es gab nur einen er unter den Legionen männlicher Patienten, die sie behandelten, und mit Münzenraten entschied die Belegschaft für gewöhnlich, wer sich um ihn kümmern musste. Diejenige, die das Prägedatum am schlechtesten erriet, hatte verloren.
Im Allgemeinen hielten die Schwestern professionelle Distanz zu ihren Patienten, denn das musste man, um nicht auszubrennen. Doch bei ihm hielt sich die Belegschaft nicht aus beruflichen Gründen fern. Die meisten Frauen wurden in seiner Gegenwart nervös, selbst die abgebrühtesten.
Und Ehlena? Nicht so sehr. Ja, der Typ hatte etwas Paten haftes an sich, diese schwarzen Nadelstreifenanzüge, der kurze Irokesenschnitt und seine amethystfarbenen Augen, die komm mir nicht blöd, wenn dir dein Leben lieb ist zu sagen schienen. Und es stimmte, wenn man in einem Behandlungszimmer mit ihm eingeschlossen war, hatte man den Impuls, den Ausgang im Auge zu behalten, nur für den Fall, dass man ihn brauchte. Und dann diese Tattoos auf der Brust... und dieser Stock, der den Eindruck machte, als wäre er keine Gehhilfe, sondern eine Waffe. Und...
Okay, auch Ehlena machte der Kerl nervös.
Und doch beendete sie einen Streit darüber, wer das Jahr 1977 haben durfte. »Ich übernehme das. Als Entschädigung für’s Zuspätkommen.«
»Bist du dir sicher?«, fragte jemand. »Mir scheint, du hast deine Pflicht heute schon erfüllt.«
»Ich hole mir nur noch einen Kaffee. Welches Zimmer?«
Begleitet von »Ehlena«-Hochrufen ging sie zum Mitarbeiterzimmer, verstaute ihre Habseligkeiten in ihrem Schließfach und goss sich einen dampfenden Kaffee ein. Das Gebräu
war stark genug, um als Aufputschmittel zu gelten, und pustete prima ihren Kopf frei.
Zumindest fast.
Als sie Kaffee aus ihrer Tasse schlürfte, starrte sie auf die Reihen senfgelber Schließfächer, die Straßenschuhe, die hier und da standen, und die Wintermäntel an den Haken. Auf der Arbeitsfläche im Pausenbereich standen die Lieblingstassen der Mitarbeiter, mitgebrachte Brotzeiten warteten im Regal und auf dem runden Tisch stand eine Schale mit... was war es heute Nacht? Kleine Smartiespackungen. Über dem Tisch hing ein schwarzes Brett mit Veranstaltungshinweisen, Coupons, albernen Cartoons und Bildern von heißen Kerlen. Daneben hing der Dienstplan, das Whiteboard mit einer Schichtübersicht der nächsten Wochen, gefüllt mit Namen in unterschiedlichen Farben.
Es waren die Gegenstände des normalen Lebens, von denen keiner im Geringsten von Bedeutung schien, bis man an all die Leute auf diesem Planeten dachte, die nicht arbeiten konnten oder unabhängig existieren oder die geistige Kraft für all die Nebensächlichkeiten aufbrachten – wie zum Beispiel die Tatsache, dass Toilettenpapier fünfzig Cent billiger war, wenn man es im Zwölferpack kaufte.
Als Ehlena sich umblickte, wurde sie einmal mehr daran erinnert, dass es ein Privileg und kein Recht war, in die reale Welt hinausgehen zu dürfen, und es bedrückte sie, dass ihr Vater in diesem schrecklichen kleinen Haus sitzen musste und mit Dämonen kämpfte, die nur in seinem Kopf existierten.
Einst hatte er ein Leben besessen, ein ausgefülltes. Er hatte der Aristokratie angehört, war Mitglied des Rates und ein geachteter Gelehrter gewesen. Er hatte eine Shellan gehabt, die er vergötterte, eine Tochter, auf die er stolz war, und ein Herrenhaus, das für seine Festlichkeiten berühmt
war. Jetzt hatte er nur noch Wahnvorstellungen, die ihn quälten, und obwohl er sie nur in seinem Kopf hörte, waren die Stimmen nicht weniger Gefängnis, nur weil niemand außer ihm die Eisenstäbe sah oder den Wärter hörte.
Als Ehlena die Tasse ausspülte, stieß ihr wieder einmal auf, wie ungerecht das alles war. Ein gutes Zeichen, nahm sie an. Trotz ihrer Arbeit war sie noch nicht gegen das Leiden abgestumpft, und sie betete, dass es so blieb.
Bevor sie aus dem Mitarbeiterraum ging, warf sie einen kurzen Blick in den mannshohen Spiegel neben der Tür. Ihre weiße Uniform war perfekt gebügelt und sauber wie steriler Verbandsmull. Sie hatte keine Laufmasche in den Strumpfhosen. Ihre Kreppsohlenschuhe waren frei von Kratzern oder
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