Black Jack: Bei Anruf Mord!
während all der Jahre, in denen sie Cecily kannte, hatte Kelly einen Fuß in dieses Zimmer gesetzt.
Sie versuchte, gleichgültig auszusehen, als sie sich dem Raum näherte. Sollte sie einen kurzen Blick riskieren? Es war nicht ungefährlich. Adrian konnte jeden Moment zurückkommen, um sich zu vergewissern, ob sie nicht doch noch einen Kaffee wollte. Wie sollte sie ihm dann ihre Anwesenheit in Cecilys Arbeitszimmer erklären?
Das Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren, überwog die Furcht, erwischt zu werden und auch das Schuldgefühl, das sie kurz spürte. Lou hatte ihr einmal gesagt: „Wenn sich eine Gelegenheit bietet, ergreifen Sie sie und heben Sie sich die Grübeleien über die Moral Ihrer Handlung für später auf.“ Es war nicht gerade der sittlich einwandfreieste Ratschlag, den sie jemals erhalten hatte, aber in diesem Fall fühlte sie sich berechtigt, ihn zu befolgen.
Mit diesem Gedanken im Kopf betrat sie das Arbeitszimmer. Es wurde nur von einer Lampe auf dem Schreibtisch schwach erhellt. Aber auch so konnte sie erkennen, dass es ein anheimelndes Zimmer war. Die Wände waren burgunderrot gestrichen, es gab einen reich verzierten Schreibtisch, fast eine exakte Kopie des Möbels, das in Cecilys Stadtbüro stand, einen Sekretär und ein Bücherregal aus Mahagoni, das eine ganze Wand einnahm.
Den Schreibtisch untersuchte sie zuerst, um keine Zeit zu verschwenden, falls sie feststellen würde, dass die einzige Schublade verschlossen war. Aber sie war es nicht. Als sie sie herauszog, vermied sie es, auf das gerahmte Foto zu schauen, von dem Victoria und Phoebe sie lächelnd ansahen. Falls ihre Freundin jemals von dieser Aktion erfahren sollte, würde sie bestimmt kein Wort mehr mit ihr sprechen.
Der Inhalt war enttäuschend. Neben den üblichen Utensilien einer Schreibtischschublade – Büroklammern, Briefpapier, Bleistifte und ein Klammeraffe – fand sie nichts von Interesse. Eine rasche Durchsuchung des Sekretärs verlief ebenso ergebnislos.
Jetzt blieb nur noch das die Wand einnehmende Bücherregal, das mit kostbar gebundenen Büchern vollgestellt war – Klassiker, die ihr bestens bekannt waren. Sie legte den Kopf schräg und las die Buchrücken –
Anna Karenina, Große Erwartungen, Madame Bovary.
Sie schritt von Regal zu Regal und entzifferte jeden Titel, ohne etwas zu berühren. Die Bücher waren so eng nebeneinander gestellt, dass selbst ein Blatt Papier nicht mehr dazwischen gepasst hätte. Außer … Kelly blieb stehen. Außer genau an dieser Stelle, zwischen
Krieg und Frieden
und
Vier Schwestern
. Der schmale Spalt war zwar kaum zu sehen, aber zweifellos vorhanden.
Mit der rechten Hand zog sie Tolstois Meisterwerk hervor und steckte die andere Hand durch die Lücke. Ihre Finger stießen auf etwas Hartes und Glattes. Noch ein Buch?
Verwirrt zog sie es heraus, ging zum Schreibtisch zurück und hielt es unter die Lampe.
Ihr Herz machte einen Sprung.
Es war ein Buch mit Kinderreimen.
31. KAPITEL
K elly las den Titel noch einmal –
Das große Reimebuch für Kinder
–, ehe sie begann, den Band durchzublättern. Da waren sie alle, die Verse, die ihr als Kind so viel Freude bereitet hatten.
Sie blätterte weiter, auf der Suche nach zwei bestimmten Gedichten. Dann fand sie sie. Eene, meene, mu stand auf Seite neun. Ihre Lippen bewegten sich stumm, als sie die fast vergessenen Zeilen las.
Eene, meene, Mütze, das Schwein liegt in der Pfütze, Eene, meene, Wackelzahn, Eene, meene, Gockelhahn. Eeene, meene, mu, und raus bist du.
.
Auf der nächsten Seite fand sie den zweiten Reim.
Eia popeia, was raschelt im Stroh …
„Kelly!“
Als das Zimmer plötzlich in gleißendes Licht getaucht war, schreckte Kelly hoch. Ward stand im Türrahmen. In seinen Augen lag ein Ausdruck von Verblüffung und Ärger.
Für ein paar Sekunden hatte es Kelly die Sprache verschlagen. Fieberhaft suchte sie nach Worten und bemühte sich, etwas zu sagen, das nicht allzu lächerlich klang.
Wards Blick blieb auf ihr haften. Sie war sich nicht einmal sicher, ob er das Buch überhaupt gesehen hatte. „Ward … ich kann es Ihnen erklären.“
„Ich bitte darum.“ Seine Blicke wanderten zu dem Buch in ihrer Hand. „Was ist das denn?“
„Ein Buch, das ich gefunden habe …“ Sie drehte sich zum Bücherregal. „Ein Buch mit Kinderreimen.“
Er sah verdutzt aus. „Hier?“
„Ja.“
„Was machen Sie denn in Cecilys Arbeitszimmer? Sie wissen doch ganz genau, dass sie keinem erlaubt, es zu betreten.“
Kelly
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