Black Jesus
Astronautendarsteller. Und dann weiß sie, wer er ist. Der Bursche aus dem Schaukelstuhl. Die gleiche lächerliche Sonnenbrille. Auch wenn sie jetzt gar nicht mehr lächerlich wirkt. Weil er zu ihr sagt: »Hi, ich wusste nicht, ob du schon wach bist.« Er schaut sie nicht an, sondern starrt gerade hinaus, mit der gleichen kümmerlichen Körpersprache, die sie schon hundertmal im Fernsehen gesehen hat, diese Unschlüssigkeit, diese unausgesprochene Scham und Orientierungslosigkeit eines Menschen, der erst vor Kurzem erblindet ist.
»Brauchst du Hilfe?«, sagt sie, als er am Fuße der Leiter angekommen ist.
Worauf Lionel White nur ein kurzes, süffisantes Lachen entfährt. »Das soll wohl ein Witz sein«, sagt er. »Bist du nicht diejenige, die hier auf unserer Couch übernachtet?«
Das Mädchen schaut ihn im Halbdunkel an, seine fahlen, ungepflegten Haare, sieht sein Elend und seine Depression und zieht die Decke näher an sich heran. »Tut mir leid. Ich dachte nur …«
»Du dachtest, dass ich ein hilfloser Spastiker sein muss, nur weil ich blind bin.«
»Nein, überhaupt nicht. Es schienen nur die passenden Worte zu sein, die mir in dem Moment einfielen. Sorry, hab’s nicht so gemeint. Ich glaube, die Batterien für meinen Richtig- und Falschmelder müssen schon seit einiger Zeit leer sein. Frag nur mein Bein.«
Reflexartig fährt sie mit ihrer Hand an dem geschwollenen Schienbein entlang, fühlt das Fieber, fühlt das Pochen des Kreislaufs, ihr eigener kleiner Trommler, ihr eigener kleiner Krieg.
»Was ist passiert?«, fragt er.
»’ne Menge.«
»Was ist mit deinem Bein.«
»Hab’s gebrochen.«
»Wie?«
»Beim Tanzen im Ballett. Ein Pferdedoktor sagte mir, das Schienbein sei zersplittert. Muss schon ein paar Wochen her sein. Oder noch länger. Mein Gott, ich verlier den Verstand.«
»Ich glaub, ich weiß, was du meinst«, sagt der Soldat, der sich noch immer an der Leiter festhält.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Kann einem ganz schön Angst einjagen, oder?«
Er denkt einen Moment darüber nach, während seine Gesichtsmuskeln mahlen wie ein Motor. Zwei verlorene Seelen warten auf eine Antwort, hier in der ehemaligen Eis-Diele, die inzwischen zum durchgedrehten Trödellager/Eigenheim mutiert ist, umgeben von ausgestoßenen, toten Gegenständen, von Kleidern, die niemand mehr tragen mag, von Gemälden, die niemand an die Wand hängen will, von Erinnerungen, die besser in Kisten verstaut bleiben sollten.
»Ja«, sagt er schließlich. »Irgendwie kann’s einem Angst einjagen.« Manchmal sind meine Träume so greifbar, so übel, dass ich mir in die Hose scheiße, möchte er sagen. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch am Leben bin. Bis zur Schädeldecke bin ich mit Pillen vollgestopft. Es ist dunkel, und ich vermisse alles, was ich nicht sehen kann. Es klingt sicher bescheuert, aber ich vermisse den Himmel. Und die Autos, die auf der Straße vorbeifahren. Und das Gesicht meiner Mutter, möchte er sagen, kann’s aber nicht.
»Ich habe oft an ihn gedacht«, sagt Gloria.
»An wen?«
»Den Vet, der mir geholfen hat.«
»Ein Kriegsveteran?«
»Nein, ein Veterinär. Am Ende des Tages sind wir wohl alle Tiere.«
»Was für eins bist du?«
»Tier?«
»Ja.«
»Weiß nicht. Ich denke, irgendein Vogel. Ein Schwan vielleicht.« Sie lacht. »Und wie sieht’s mit dir aus?«
»Ein Wolf«, sagt der Soldat.
»Wirklich?«
»Ich weiß nicht. Jedenfalls hab ich mir das gewünscht, als ich ein Kind war«, sagt er. »Was hat denn der Arzt mit dir angestellt?«
»Er hat mir das Bein geschient und gesagt, ich solle eine Weile bei ihm bleiben und mich erholen, aber ich hab nicht auf ihn gehört.«
»War er ein Perversling?«
»Nein, er war ein netter Mann, aber ich musste einfach weiter.«
»Warum?«
Sie antwortet nicht. In ihrem pochenden Schädel läuft ein wirrer Zusammenschnitt all der Szenen ab, die sie auf der abstrusen Pilgerfahrt durch ihre Heimat erlebt hat. Ein Land auf der Kippe. Tankstellen. China-Restaurants mit »All You Can Eat«-Büffets. LKW-Ladungen voller Wanderarbeiter. Eine verlassene Farbenfabrik. Zuggleise auf der Straße. Ein sterbender, schöner Bär. Ineinander verkeilte Trailer auf dem Highway. Sonnenuntergänge, die einem die Tränen in die Augen treiben. Zehntausende kleiner, dunkler Vögel, die im Flug ihre Formation verändern wie auf einer Zaubertafel – angetrieben von der gleichen verspielten Kraft, die das Leben erschaffen hat und auch wieder beendet. Telefonmasten, die
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