Black Jesus
Mittagessen, Liebling«, sagt Debbie vorsichtig, um ihn nicht auf die Palme zu treiben.
»Klar, du hast aber auch nicht gesehen, was ich heut Nacht geträumt habe.«
Alle schweigen. Seine Worte hängen in der Luft wie verkohlte Bremsbeläge auf der Bergstraße. Das Radio läuft. Er zieht mit seinem Stiefel eine Furche in den Schotter. Unten an der Ampel scheint jemand auf seiner Hupe zu sitzen.
Schließlich sagt Gloria: »Dann ist wohl alles gebongt, ja? Super. Es ist das große Betongebäude mit den vielen Fenstern, richtig, Joe?«
»Genau. Ein Stück die Straße runter, am Shakespeare’s vorbei, dann über den Feldweg zu den Bäumen. Ist nur ein kleiner Spaziergang.«
»Ich geh nirgendwohin«, sagt Lionel und lässt seine große, schwarze Brille in der Sonne blitzen.
»Das hab ich mir fast schon gedacht«, grinst Gloria. »Debbie, kann ich mir vielleicht eine von den Schnüren da ausborgen?«, sagt sie und zeigt auf eine Kiste mit Jeansflicken, Wollknäueln und Bindfäden.
»Aber nicht die hellblaue Kordel!«
»Was ist mit der goldenen?«
»Die kannst du gern nehmen«, sagt Debbie, inzwischen von dem Besuch im Altersheim durchaus angetan, auch weil sie so vielleicht etwas Zeit mit ihrem Indianerliebchen bekommt. »Bring sie aber wieder zurück. Gutes Garn wächst nicht auf Bäumen.«
»Danke«, sagt die Tänzerin, und dann zu Lionel: »Es ist höchste Zeit, dass du aus deinem gottverdammten Stuhl rauskommst. Es gibt eine große Welt da draußen.«
»Und ob. Du kannst dir gern anschauen, was sie aus mir gemacht hat.«
Ohne darauf einzugehen, greift sie sich die Kordel und geht zum Soldaten zurück.
»Halt still«, sagt sie und wickelt sie um seinen Oberkörper.
»Was machst du da?«
»Ich mach jetzt mit deinem traurigen Arsch einen Spaziergang.«
Normalerweise wäre seine Mutter, besorgt um Gesundheit und Glück ihres Sohns, angesichts dieser Schnapsidee längst eingeschritten, doch Amors Pfeil hat sie getroffen, dort an der Registrierkasse, wo sie mit ihrem großen Indianer gerade auf Tuchfühlung geht. Schmutzige Sachen flüstern sie einander ins Ohr und stecken obendrein die Zunge hinein.
Gloria geht zu ihrem treuen Roller, während sich die goldene Kordel hinter ihr abrollt, bindet das Ende an den rostigen Gepäckträger über dem Hinterrad, setzt sich aufs Moped, stülpt den Helm über, startet die Maschine, zuckelt vorwärts und zieht Black Jesus aus seinem Stuhl. Mit ausgestreckten Armen und rostigen kleinen Schrittchen folgt er ihr so widerspruchslos wie ein Schlafwandler.
Und fort sind sie, über den Parkplatz zum Straßenrand – zwei Kinder, die nichts zu verlieren haben. Und die mehr verbindet als nur eine goldene Kordel.
Venice Beach, California
VENICE BEACH, CALIFORNIA
Zu dieser Tageszeit schwebt Bebop Billy garantiert schon so hoch wie der News-Hubschrauber der lokalen Fernsehstation. Er steht am Ende des Boardwalk, schwankt gedankenverloren vor und zurück und betrachtet die blaue Leere, die sich vor ihm ausrollt. Nach einer Weile führt er seine Blockflöte an die Lippen und bläst ein langsames Lamento für die Welt, in der er lebt, für das Land, an dessen äußerstem Rand er steht.
Wo bewegen wir uns hin?, wundert er sich, als er mit den Fingern über die Grifflöcher gleitet, öffnet, schließt und wieder öffnet. Wie wird das alles enden?
Als die Melodie an ihr Ende gekommen ist, atmet er durch und schließt die Augen, fühlt die Wärme der Drogen in seinem Körper, die warme Seeluft auf seinem Gesicht. Er bewegt seinen Kopf langsam zur Seite und stellt fest, dass er Gesellschaft bekommen hat. Es ist der Junkie-Transvestit, den sie hier alle Lady Di nennen. Bebop hat sie oft auf dem Speedway gesehen, aber seltsamerweise haben sie nie ein Wort gewechselt, nie eine Nadel geteilt. Er hat keine Ahnung, wie lange sie hier schon gestanden und ihm zugehört hat. Sie trägt eine violette Boa um ihren gebräunten Hals, eine grüne, transparente Sonnenkappe auf dem Kopf und ein T-Shirt mit dem Wort » CANCER « sowie einem roten, lachenden Cartoon-Krebs. Sie spitzt den Mund und klatscht vornehm in die Hände, so wie gewöhnlich Aristokraten klatschen, wenn sie sich leidlich unterhalten fühlen – gefolgt vielleicht von einem müden Gähnen oder dem Wedeln eines Papierfächers.
»Bist du im Showbiz?«, fragt Lady Di.
»Nein«, sagt Bebop. »Ich bin kamerascheu.«
»Mein Gott, dann bist du einer in einer Million, die in diesem Wichser-Dschungel mit der Postleitzahl 9-0-2-1-0
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