Black Mandel
und ich weiß, wenn ich mich jetzt wieder zu der Felswand umdrehe, wird er direkt vor mir stehen, sodass ich seinen kalten Atem und die brennenden Augen spüren werde.
»Wach auf«, sagte der Mandel. »Er ist da.«
Ich wusste nicht, ob der Traum vorbei war, doch ich lag wieder quer über Beifahrer- und Fahrersitz. Es war noch nicht ganz hell, aber auch nicht mehr dunkel. Die Handbremse drückte in die Nieren.
»Wer ist da?«, fragte ich.
»Therion«, sagte der Mandel und zog an einer Zigarette.
Ich richtete mich auf und blickte durch die Frontscheibe. Ein Mann in einer weiten, schwarzen Windjacke mit Kapuze kam uns entgegen. Er hatte kurze dunkelblonde Haare, eine Cäsarenfrisur und war glatt rasiert. Er trug Gummistiefel. Es regnete leicht. Der Mandel war ausgestiegen und ging auf ihn zu. Wenn das Aksel Raske alias Therion war, hätte ich ihn nicht erkannt. Auf den Bildern im Netz hatte er lange Haare und war meistens geschminkt.
Ich stieg aus dem Auto, meine Halswirbelbandscheiben fühlten sich an, als wären sie allesamt über Nacht herausgesprungen, und ich war völlig verschnupft. Raske lächelte, als er dem Mandel die Hand schüttelte. Ich hatte Hunger und wahrscheinlich einen fürchterlichen Mundgeruch. Das war der Vorteil, wenn man so wie der Mandel schon morgens eine Zigarette rauchte.
»Es tut mir leid, dass ihr hier so unbequem übernachten musstet. Aber nachts kann man das Boot nicht mehr benutzen. Ich bin Aksel«, sagte Raske in grammatikalisch korrektem Englisch, das völlig überladen war von seinem norwegischen Singsang. Klang aber nicht unangenehm.
»Max Mandel.«
»Sigi Singer.«
»Freut mich«, sagte er mit der größten Beiläufigkeit, als hätten wir ordentlich einen Termin vereinbart. Hatte uns jemand angekündigt?
»Wir suchen nach Cristian Hallberg, im Auftrag seiner Schwester«, sagte der Mandel.
»Die hübsche Vilde«, sagte Raske, während er als Erster ins Boot stieg.
Raske ruderte mit uns zu der absurd kleinen Insel, auf der sein Haus stand, zwei Bäume und ein paar Mülltonnen und sonst nichts. Es waren tatsächlich höchstens zweihundert Meter bis zur Insel, aber in der allumfassenden Finsternis der letzten Nacht war sie für mich nicht zu sehen gewesen. Das Haus war länglich und aus weißem Holz. Es besaß eine Veranda und lag für meine Begriffe zu nah am Wasser – wir legten mit dem Ruderboot quasi an der Veranda an. Hinter dem Haus stand noch eine Art Gartenhäuschen aus rot lackiertem Holz.
»Schönes Haus«, sagte ich
»Fertighaus von Ikea«, sagte Raske und lachte. Keine Ahnung, ob er einen Witz machte.
»Hast du keine Angst vor Überschwemmungen?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Raske. »Der Fjord ist eher eine träge Masse als ein Gewässer.«
Das Haus war im Grunde genommen ein einziger großer Raum. Ganz links unterm Fenster stand ein kleines Holzbett, daneben ein Schrank, und an den Wänden stapelten sich Bücher.
»In dem roten Haus ist mein Studio«, erklärte Raske, ohne dass ihn jemand danach gefragt hätte.
»Nehmt doch Platz«, sagte er und deutete auf einen wuchtigen Tisch aus dunklem Holz. Dann ging er in die rechte hintere Ecke des Hauses und setzte Kaffee auf. Über der Kaffeemaschine hing ein Filmposter von Taxi Driver mit Robert De Niros Irokesenfrisur und nacktem Oberkörper.
»Ihr seid also Privatdetektive«, sang Raske uns an, und wir nickten. Woher wusste er das? Hatte der Totenkopfmann ihm das gesagt?
»Kennst du Utgang?«, fragte ich.
»Das Kreuzigungsbild, habt ihr es gesehen?«, fragte Raske.
»Du kennst es also?«, fragte ich, und ich gebe zu, diese Gegenfrage taugte detektivisch rein gar nichts.
»Liebe Freunde aus Deutschland, ich will euch keine Scheiße erzählen, denn ich weiß, dass ihr gebildete Menschen seid. Von dir«, sagte Raske und zeigte auf den Mandel, »hab ich sogar schon einen Artikel gelesen.«
»Ah ja?«, sagte der Mandel.
»Die Plattenkritik von der Varg . Du hast mir Stagnation vorgeworfen.«
»Du hast den Express gelesen?«, fragte ich.
»Suchmaschine«, sagte Raske.
»Das alte Zeugs vom Express steht noch im Netz?«, sah ich den Mandel erstaunt an. Irgendwie konnte ich nicht aufhören zu fragen.
»Ist doch jetzt wurscht, Sigi«, sagte der Mandel.
»Sprichst du denn auch Deutsch?«, fragte ich Raske.
»Nikt so gut. Aber ik kann es ein bisken lesen«, sagte Raske in gebrochenem Deutsch.
»Außerdem gibt es Übersetzungsprogramme im Internet«, sagte er dann wieder auf Englisch.
» Varg ist kein
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