Black Mandel
Stufen vom Dom gesessen und den Pärchen drüben im Lustgarten beim Schmusen zugesehen. Es war außergewöhnlich, weil keiner von uns enttäuscht war. Niemand war enttäuscht, wir saßen einfach nur da und tranken das Peroni, das selbst beim vierten noch so frisch und künstlich schmeckte, wie es nur ein italienisches Bier kann. Irgendwann hat der Mandel seinen Arm um mich gelegt. Er hatte die Ärmel seines Hemdes zurückgekrempelt und roch nach Aftershave. Ich weiß, es klingt merkwürdig, aber er roch ein bisschen wie mein Vater. »Ich hoffe, dass es dir gut geht, Sigi. Ich wünsche mir wirklich, dass dir nie etwas Schlechtes passiert. Dass dich keiner hängen lässt. Du bist ein feiner Kerl, Sigi. Du bist ein feiner Kerl. Ich wünsche dir das nicht.«
»Ja, wünsch ich mir auch nicht«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel. Der Mandel verstärkte kurz seine Umarmung, dann ließ er los und zündete sich eine Zigarette ein. Niemand war vom anderen enttäuscht an dem Abend, und wir saßen noch über eine Stunde auf den warmen Stufen vom Dom.
Der Mandel zog die Beine an, weil er Angst hatte, sie sich beim Aufprall zu brechen. Er vertraute auf die gute alte Arschbombe, die er als Kind im Freibad immer vom Fünfer gemacht hatte. Nur das hier war quasi ein Dreißiger. In der Luft kippte er zur Seite und schlug mit der Hüfte zuerst auf dem schwarzen Wasser des Fjords auf. Der Mandel hat erzählt, das hat sich angefühlt, als hätte ihn jemand aus dem vierten Stock seiner Wohnung am Chamissoplatz hinunter auf die Straße geworfen, mit der Hüfte voran. Der Schmerz hat dem Mandel sofort die Möglichkeit geraubt, sich auf die nun folgende Unterwassersituation einzustellen. Vor Schmerz hat er die Augen zugemacht, und als er sie wieder aufmachte, war er längst unter Wasser und sah nichts als die schwarze Unterwassernacht. Er merkte, wie er von der Wucht des Sprungs weiter nach unten gedrückt wurde. Eine lähmende Kälte überkam ihn innerhalb von Sekunden, das hätte er nicht gedacht, dass das so schnell geht. Er hatte beim Aufprall schon eine größere Menge Wasser geschluckt und fühlte jetzt zusätzlich zu der Kälte einen inneren Druck, als würde es ihm gleich die Lunge zerreißen. Das einzig Gute war, dass dadurch der Schmerz in der Hüfte nachließ. Als er nach unten sank und die Luft anhielt, dachte der Mandel zunächst an das wenige, was er über Ertrinken in Salzwasser wusste: Irgendwann kann man die Luft nicht mehr anhalten und atmet aus, dann schluckt man das Salzwasser, und es dringt über die Lunge in den Blutkreislauf ein und verdünnt das Blut oder so ähnlich. Wegen dem Salz läuft auch irgendwas falsch mit dem Kalium-Natrium-Haushalt, und das ist dann alles zu viel für das Herz, und das Betriebssystem fährt unwiderruflich runter. Der Mandel hatte mit sechzehn seinen Hund, den Alten Fritz, zum Einschläfern bringen müssen, und da hatte ihm der Arzt erklärt, dass er mit einer Kaliumchloridlösung das Herz vom Alten Fritz zum Stillstand gebracht hat. So ähnlich läuft das hier auch, dachte der Mandel. Ergo war ihm durchaus bewusst, dass ganz schnell Sense war, wenn er es nicht innerhalb der nächsten Sekunden an die Oberfläche schaffte. Aber um nach oben zu kommen, durfte er nicht bewusstlos werden, und genau das war sein nächstes Problem. Es war hauptsächlich ein Konzentrationsproblem. Die Schmerzen und die Kälte brachten den Mandel nämlich in kürzester Zeit dazu, gedanklich von seinen Überlebensstrategien in ganz andere Themengebiete abzuschweifen. Und wer jetzt denkt, der Mandel lässt noch mal sein Leben als gefragter Musikjournalist in der genüsslichsten Zeitlupe an sich vorbeiziehen, von den Interviews mit Kylie Minogue bis hin zum ersten Wacken-Open-Air, der irrt. Die Gedankenwelt vom Mandel bleibt für uns Normalsterbliche in der Regel eine Terra incognita, aber durch den Bericht von seinem Ertrinken bekommt man zumindest einen kleinen Einblick. Während der Mandel also bei halbem Bewusstsein im schwarzen Hardangerfjord trieb, dachte er nicht an Kylie Minogue, sondern an die neue Kollektion von Armani-Uhren, die er neulich in der Galeria Kaufhof gesehen hatte. Nicht weil er per se ein großer Armani-Anhänger ist, sondern weil ihm die römischen Zahlen auf dem Ziffernblatt so gut gefallen.
In seiner Nahtodfantasie steht der Mandel dann vor dem Glaskasten mit den Armani-Uhren in der Galeria Kaufhof und zeigt mit dem Finger auf eine bestimmte Uhr mit silbernem Armband und ganz
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