Black Monday
lieber verdrücken sollte. Was mit diesem Europäer passiert, geht ihn nichts an. Was ihn anfangs neugierig gemacht hat, war die herrschaftliche Erscheinung des Mannes. Er scheint sich in der ihm fremden Welt des Bazars zu Hause zu fühlen. Ein Mann, zum Schutz gegen die Hitze ganz in Weiß gekleidet, selbstbewusst in der weiten Hose und dem Polohemd. An seinem Handgelenk trägt er eine teure Uhr, eine Verlockung für jeden Dieb.
Clayton hat vier zerlumpte Jungs gezählt, die dem Mann seit zehn Minuten folgen. Sie lassen sich zurückfallen, wenn er einen Laden betritt, holen wieder auf, wenn er weitergeht, um seine Wachsamkeit zu testen, und verständigen sich per Handzeichen.
Noch nicht. An der nächsten Ecke, okay?
Ob mein Vater so ausgesehen hat wie er?, fragt sich Clayton. Und in dem Augenblick weiß er, dass er dem Mann nicht mehr von der Seite weichen wird.
Die anderen Jungs, die sich als Diebe auf dem Bazar durchschlagen, nennen Clayton »Feranj« (Fremder) oder Sandgesicht, Bastard, Beni naji, was so viel heißt wie Sohn einer Hündin. Aber selbst die Kräftigen gehen ihm aus dem Weg, wie sie es schon im Lager getan haben. Schon zu viele von ihnen hat er mit Stichwunden zum Arzt geschickt. Nicht wenige haben schon blutend und stöhnend am Boden gelegen und in seine teuflischen blauen Augen gestarrt, während er ihnen zuflüsterte, dass er sich, wenn sie ihn das nächste Mal angriffen, an ihren Schwestern und Eltern rächen würde.
Zehn Augen für ein Auge. Zehn Zähne für einen Zahn.
Seit seiner Flucht aus dem überfüllten Lager vor zwei Monaten schläft er in Häuserwinkeln und hält sich mit dem über Wasser, was er auf dem überfüllten Bazar erbeuten kann. Hier eine Brieftasche, die er einem Touristen klaut, dort eine Feige von einem Obsthändler oder ein neues Hemd und neue Levi's von einem Kleiderregal. Die schwulen Touristen bevorzugen sauber und gepflegt aussehende Jungen, die sie ins Interconti einladen, wo man sich ein paar Stunden lang in ein anderes Leben träumen kann, wo man duschen kann und gutes Essen bekommt und mit Dollars, Francs und Yens belohnt wird.
»Du bist so hübsch, sagen die Männer zu ihm. So hellhäutig.«
»Ich bin keiner von euch«, erwidert er dann, denn seine Mutter hat ihm immer gesagt, dass er das Blut eines berühmten Mannes in sich trägt, eines berühmten Kriegers. Nicht das Blut dieser Schweine.
»Wer war mein Vater?«, hat er seine Mutter jedes Mal gefragt.
Aber sie wurde getötet, ehe er eine Antwort auf diese Frage bekam.
Ein Leben kann sich innerhalb von Sekunden ändern. Ein Junge muss Entscheidungen treffen. Er hört, wie der Mann in der Bude zu Onkel Camel sagt: »Ich dachte, ich hätte mich verständlich gemacht. Ich möchte einen Smaragd.«
Onkel Camel hält einen Rubin hoch. »Das ist ein Smaragd. Ich schwöre es!«
Der Mann kommt aus der Bude.
»Idiot«, murmelt er vor sich hin. Doch er lächelt.
Ob mein Vater auch hier eingekauft hat?
Der Mann schlendert am Schuhmacher, am Feigenhändler, an den Geflügel- und Wasserpfeifenständen vorbei. Neben dem Mann, der Musikinstrumente repariert, befindet sich der Bücherstand. Der Schuhmacher hämmert. Unter dem uralten Dachgewölbe preisen Händler ihre Waren an.
Sie werden ihm an der nächsten Ecke auflauern, in der Nähe der Stände, die den Mitgliedern des Weißen Dschihad gehören.
Clayton hört von links ein leises Zischen. Jemand flucht. Die Jungs versuchen, ihn zu verscheuchen.
Stattdessen schließt Clayton zu dem Mann auf.
»Hallo«, sagt er.
»Verschwinde.«
»Die Jungen werden Sie ausrauben«, sagt Clayton in gestelztem Englisch. Er hat ein Talent für Sprachen, er schnappt sie überall auf, von Missionaren, von den Männern in den Hotels, von einem gestohlenen Kassettenrekorder, von den englischen Filmen, die sich die ausländischen Ärzte im Lager oft angesehen haben.
»Vier Jungen folgen Ihnen. Ich werde Ihnen helfen.«
Der Mann bricht in schallendes Gelächter aus. Seine Zähne sind weiß und gerade. Sein Haar ist weizenfarben, in der Mitte gescheitelt und auf seinem schmalen Kopf nach hinten gebürstet. Seine Haltung ist perfekt, er hat geschwungene Brauen und blaue, intelligente Augen. Er will Clayton Geld geben.
Clayton schüttelt den Kopf.
Der Mann runzelt die Stirn, wie um zu fragen: Warum willst du mir helfen? Wieso interessiert dich das überhaupt?
Clayton sagt: »Sie sehen mir ähnlich, Feranj.«
Der Mann geht weiter, aber dann schaut er sich noch einmal um. Der
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