Black Rabbit Summer
diesem Moment wehtut.
Ich ging gebückt zu der gegenüberliegenden Wand der Hütte und setzte mich hin.
Die Luft war kühl.
Ich spürte, wie der Schweiß auf meiner Haut trocknete.
Ich sah mich in der Hütte um. Es lagen keine Flaschen mehr da, keine Zigarettenkippen, es gab keine Spuren von Samstagabend. Alles, wurde mir plötzlich klar, lag jetzt in irgendeinem Polizeilabor – zerstückelt in Reagenzgläsern, in feine Scheiben geschnitten unter Mikroskopen, als Flüssigkeit in irgendwelchen raffinierten Maschinen herumwirbelnd, die allen möglichen Blödsinn analysierten.
Die rechte Hüttenwand war eingedrückt. Ich nahm an, dass jemand – wohl irgendein dicker Polizist – entweder dagegengeprallt war oder ihr einen kräftigen Tritt verpasst hatte. Ein frischer Brombeerzweig hatte bereits begonnen, durch einen Spalt zwischen den Brettern zu kriechen. Es würde nicht lange dauern, bis sich weitere Zweige hindurchzwängten, dann würde die Lücke größer werden und es würden noch mehr Zweige hineindrängen... bis sich schließlich das Brett lösen und die Brombeerzweige alles überwuchern würden und die ganze Hütte in sich zusammenfiele.
Lange würde das nicht dauern.
Es spielt keine Rolle.
Eine flüsternde Stimme.
Sie kam von einer ortlosen Stelle irgendwo vor mir, einer |423| Stelle, die irgendwie nicht existierte. Mitten in der Hütte und doch nicht mitten in der Hütte. Schwebend und doch nicht schwebend, ungefähr einen halben Meter über dem Boden. Aber der Boden war gar nicht da. Genauso wenig wie Black Rabbit oder die feine Goldkette um seinen Hals oder die einzelne rote Blume, die von der Kette hing wie ein Perlentropfen honigsüßen Bluts. Und Black Rabbit hatte auch nicht Raymonds Gesicht. Ich sah schweigend zu, wie Raymond mit seinen glänzend schwarzen Augen blinzelte und eine vollkommene rote Träne aus der Blume an seiner Kette zu Boden fiel.
Es geht bei dem Ganzen um Pauly, stimmt’s?
, flüsterte er.
»Es geht bei dem Ganzen um alle.«
Aber Pauly ist der Schlüssel.
»Vielleicht...«
Der Schlüssel für das Ende.
Ich zog Erics Handy aus der Tasche und klappte es auf.
Meine Hände zitterten und meine Finger und Daumen schienen auf ihre doppelte Größe gewachsen zu sein, weshalb ich eine Weile brauchte, um das SM S-Menü zu finden, und noch länger, um die Nachricht zu schreiben, doch nach etlichem Löschen, Zurückspringen und Fluchen schaffte ich es endlich.
Pauly – sie wissen was samstgnacht passiert is. Muss dich dringnd sprchen! Trefen schnllstmgl @ dw hütte. Sag andern nix, komm allein – Eric
Weil Eric sämtliche SMS in seinem Handy gelöscht hatte, gab es keinen Anhaltspunkt, wie er seine Nachrichten normalerweise formulierte, deshalb hatte ich keine Ahnung, ob meine |424| Nachricht halbwegs nach Eric klang und ob sie Pauly täuschen würde. Ich hatte eine Weile überlegt, was für ein SM S-Schreiber Eric sein mochte. Kürzte er viel ab, verwendete er Großbuchstaben oder nicht, unterschrieb er mit Eric oder mit E oder EL? Doch mir war klar, es war reine Zeitverschwendung. Es gab keine Möglichkeit, so etwas zu erraten. Ich konnte nur hoffen, dass Erics SMS im Großen und Ganzen genauso aussahen wie die anderer Leute. Und falls nicht, war Pauly hoffentlich zu durchgeknallt, um es zu merken.
Wenn die Annahme hinter der Nachricht stimmte, würde Pauly dermaßen durcheinander sein, dass er
überhaupt
nichts mehr merkte, da war ich mir ziemlich sicher.
Ich las die SMS noch mal durch, nur um sicher zu sein, dass sie nicht missverständlich war... dann drückte ich auf
OK
, klickte runter auf
PYG
und drückte auf
Senden
.
Paulys Antwort kam fast im selben Moment:
bn in 15 min da
Das war alles.
Jetzt musste ich nur noch warten.
Es waren zeitlose fünfzehn Minuten, und während ich in dem kühlen Schatten der Hütte saß und meine Gedanken in der hölzernen Stille umherstreiften, versuchte ich mir vorzustellen, wie sich Raymond gefühlt haben musste, wenn er allein hierhergekommen war – still zwischen den Brombeerranken sitzend und die warme, erdige Luft einatmend, die Augen halb geschlossen, den Kopf voll mit nichts...
Versteckt an einem geheimen Ort.
Und niemand wusste, wo er war...
|425| »Warst du glücklich damals?«, hörte ich mich laut überlegen. »Ich meine, wenn du allein hier raufgekommen bist... hat dich das glücklich gemacht?«
Ich weiß nichts von glücklich...
»Aber hat es dir gefallen?«
Ich hab mich ruhig gefühlt. Ich musste mir
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