Black Rabbit Summer
unerlaubte Wünsche.« Sie blickte wieder zu ihm und ihre Augen schienen über den Tisch zu reichen. »Niemand ist
schuld
, Raymond«, flüsterte sie eindringlich. »Diese Dinge... deine Welt... die Art, wie du die Dinge siehst, die Art, wie dich die Welt sieht... diese Dinge gehören zu
dir
, sie sind dein
Leben
... das weißt du doch, oder?«
»Ja«, hauchte Raymond.
»Du kennst die Augenblicke des Lichts.«
Er nickte.
Sie schaute wieder auf die Karten. »Deine Karten«, murmelte sie und schob ihre Hand über alle drei, »dreimal Pik... ihre Dunkelheit erzählt mir von dunklen Zeiten. Verwirrung. |114| Angst. Vielleicht sogar...« Sie zögerte einen Moment und legte den Finger auf die mittlere Karte, die Pik-Zehn. »Deine Augenblicke des Lichts... du musst an ihnen festhalten. Sogar jetzt...« Sie tippte auf die Karte. »Diese hier meint das Jetzt... die Gegenwart. Eine Zeit großer Veränderungen. Die Dinge um dich herum verändern sich – deine Freunde, deine Orte, deine...« Sie runzelte ein wenig die Stirn. »Deine Anliegen.« Sie sah zu Raymond hoch. »In dir ist eine große Freundlichkeit.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein...«
»Dann vielleicht Selbstlosigkeit. Du machst dir Gedanken um andere, ohne an dich zu denken.«
Raymond sagte nichts.
Die Frau lächelte. »Deine Augenblicke des Lichts beschämen die Dunkelheit.«
Raymond konnte noch nie gut mit Komplimenten umgehen. Ich spürte, wie verlegen er war, und als ich ihn ansah, musste ich über die Woge der Scham lachen, die seinen Nacken rot werden ließ. Ich hatte keine Ahnung, was geschah, doch was auch immer es sein mochte, es gab mir ein besonderes Gefühl von Stolz.
Es war ein schöner Moment – ein Moment, der in der Luft zu schweben schien –, und wie ich so in der kühlenden Stille des Zelts stand, wünschte ich mir, er würde niemals enden. Ich wollte, dass er das Ende
war
– keine Worte mehr, kein Lärm, kein Garnichts. Wenn ich nur einen Zauberstab hätte schwenken und uns beide fortzaubern können, solange der Moment das Einzige war, das existierte...
Aber es gab keinen Zauber.
Den gibt es nie.
Immer endet der Moment.
|115| Ich schaute auf Raymond hinab und sah, wie er sich nervös den Nacken rieb. Ich sah seine Hand, seine abgekauten Fingernägel, den staubigen Schimmer seines widerspenstigen schwarzen Haars... und ich sah, wie er sich vorbeugte, auf die letzte Karte zeigte, die auf dem Tisch lag, das Pik-Ass, und den Blick ängstlich auf die Frau richtete.
»Ist das meine Zukunft?«, fragte er sie.
Ein eigenartiger Widerstreit lag in dem Blick, mit dem sie ihn ansah, und als sie sprach, klang ihre Stimme überraschend zögerlich. »Es ist manchmal schwierig...«, erklärte sie ihm. »Ich muss jede Karte in Bezug zu den anderen deuten ... und ab und zu kann das die Dinge verunklären...«
»Es ist eine schlechte Karte«, sagte Raymond. »Dieses Pik-Ass.«
»Nicht unbedingt –«
»Die Todeskarte.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht, Raymond. Ja, sie kann sehr destruktiv sein, aber sie kann auch das Ende schlechter Zeiten und den Anfang von etwas Neuem bedeuten.« Sie sah ihn an. »Es gibt kein Leben ohne den Tod.«
Raymond starrte sie an. »Wird jemand sterben?«
Sie antwortete ihm nicht sofort und ich hätte sie anschreien mögen –
zöger doch nicht, verdammt noch mal, sag einfach Nein!
–, doch sie wirkte merkwürdig unwillig, sich festzulegen. Ich begreife jetzt, dass die Frage schwer zu beantworten war.
Wird jemand sterben?
Ja, natürlich wird
jemand
sterben. Irgendjemand stirbt immer irgendwo. Doch das hatte Raymond nicht gemeint und die Frau war sich dessen völlig bewusst.
»Unsere Zukünfte sind unendlich«, sagte sie schließlich. |116| »In jeder Sekunde eines jeden Tages entscheiden wir uns, welchen Weg wir gehen. Und jedes Mal, wenn wir eine Entscheidung fällen, trifft eine andere Seite in uns – ein anderes Ich – eine gegenteilige Entscheidung. Darum ist stets alles möglich und stets geschieht alles. Doch da wir nur eines von unendlich vielen unserer Ichs sind, sind die Chancen, dass uns zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort etwas Bestimmtes geschieht, fast gleich null.«
»Aber Dinge geschehen«, sagte Raymond.
»Ja, Dinge geschehen.«
»Schlimme Dinge.«
Sie nickte. »Manchmal...«
»Heute Nacht?«
Für ein paar Sekunden starrte sie Raymond schweigend an und ihre Augen leuchteten dunkel, dann lehnte sie sich langsam in ihrem Stuhl zurück und
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