Black Rabbit Summer
kann.
Normalerweise berühren mich solche Dinge nicht sehr, aber als Raymond mir das Kaninchen schenkte, war ich ziemlich ergriffen. Alle andern hatten mir Geschenke gemacht, wie man sie eben so kriegt zum sechzehnten Geburtstag – Mum und Dad hatten mir Geld geschenkt, ein Mädchen, mit dem ich ein paar Mal aus war, hatte mir eine unvergessliche Nacht geschenkt, und von Freunden aus der Schule hatte ich Karten und kleine lustige Sachen bekommen – aber Raymonds Kaninchen... das war ein
richtiges
Geschenk. Ein ernsthaftes Geschenk, das mit Bedacht ausgewählt |26| worden war.
»Du musst es nicht behalten, wenn du es nicht magst«, hatte Raymond verlegen vor sich hin gemurmelt, während er mir beim Auspacken zusah. »Ich meine... ich weiß, es ist ein bisschen... na ja, du verstehst schon... ich meine, wenn es dir nicht gefällt...«
»Danke, Raymond«, sagte ich zu ihm, als ich das Porzellankaninchen in Händen hielt. »Es gefällt mir. Ich finde es wunderbar. Vielen Dank.«
Er hatte den Blick gesenkt und dann gelächelt und das Gefühl, das ich in diesem Moment spürte, war schöner als sämtliche Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke zusammen.
Jetzt schaute ich das Kaninchen an – sein Porzellankörper schimmerte im Mondlicht, die schwarzen Augen leuchteten und schauten traurig.
»Was meinst du, Raymond?«, fragte ich leise. »Willst du auf die Kirmes und eine Reise in die Vergangenheit machen? Oder sollen wir beide lieber bleiben, wo wir sind, verborgen in unserer eigenen kleinen Welt?«
Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber das Porzellankaninchen gab keine Antwort. Es saß bloß da, schwarzäugig, traurig, und starrte ins Leere. Nach einer Weile kam ich mir ziemlich albern vor – wie ich da mitten in der Nacht nackt und allein am Fenster stand und mit einem Kaninchen aus Porzellan redete...
Mum hatte recht – ich musste wirklich mal wieder mehr unter Leute.
Ich schüttelte den Kopf und ging zurück ins Bett.
|27| Zwei
D ie Häuser in unserer Straße, der Hythe Street, sehen alle ziemlich gleich aus – schlichte Reihenhäuser mit einem Vorplatz und einem ummauerten Garten hinten. Die Gärten auf unserer Seite enden an einem mit Sträuchern bewachsenen kleinen Abhang, der runter zum Fluss führt, während die Gärten auf Raymonds Seite über einen gemeinsamen Fußweg und an einer verfallenen Kirche vorbei auf die Hauptstraße blicken, die parallel zur Hythe Street verläuft. Die Hauptstraße, St Leonard’s Road, führt in südlicher Richtung aus dem Stadtzentrum den ganzen Weg hinab zum Hafen am Fuß des Hügels, der ungefähr achthundert Meter von der Hythe Street entfernt liegt.
Der Weg, der hinten an Raymonds Haus vorbeiführt, ist nicht gerade der schönste Ort der Welt. Erstens ist er bedrückend schmal, dazu kommt, dass auf beiden Seiten hohe Ziegelsteinmauern jedes Licht abhalten, sodass es dort selbst im Sommer düster und klamm ist. Die bröselnden alten Mauern sind oben mit Stacheldraht und Glasscherben bewehrt und aus irgendeinem Grund seit jeher schwarz vor Ruß. Außerdem entsorgen die Leute hier ihren Abfall, deshalb ist der Weg ständig mit irgendwelchem Mist zugestellt – prallen schwarzen Müllsäcken, überquellenden Mülltonnen, leeren Flaschen, |28| Bierdosen, Hundescheiße... mit jeder Menge widerlichem Zeug. Deshalb ist der Weg wie gesagt nicht gerade der schönste Ort der Welt, trotzdem bin ich dort immer entlanggegangen, wenn ich zu Raymond wollte, und auch er ist dort entlanggegangen, wenn er zu mir wollte.
Es war unser Weg vom einen zum andern.
Es muss am Freitag irgendwann um die Mittagszeit gewesen sein, als ich das Haus verließ und mich auf den Weg zu Raymond machte. Die Sonne knallte vom Himmel und erfüllte die Luft mit einem milchig weißen Schleier. Als ich die Straße überquerte und in den Fußweg einbog, spürte ich, wie der aufgeweichte Teer an den Sohlen meiner Turnschuhe kleben blieb. So ein Tag war das – einer, an dem die Hitze derart stark ist, dass
alles
langsamer zu werden und zu schmelzen scheint, auch dein Gehirn. Dabei war mein Hirn ohnehin schon halb geschmolzen, weil ich so wenig geschlafen hatte. Doch davon abgesehen fühlte ich mich überraschend frisch. Ich hatte die schmutzigen Sachen ausgezogen, die ich die letzten drei Tage getragen hatte, ich hatte geduscht und es sogar fertiggebracht, ein paar Knoten aus meinen Haaren herauszubekommen. Weiß der Himmel, warum mir das wichtig war. Ich wollte doch bloß zu Raymond, und der hatte nie
Weitere Kostenlose Bücher