Black Swan - Silberner Fluch
unserer Reise durch Manhattan nicht wahrgenommen hatte. Hätte sie Lungen und keine Kiemen gehabt, hätte ich gesagt, dass sie den Atem anhielt. Als wieder Land über uns war, schien sie etwas gelöster, obwohl wir nun gegen die Strömung kämpfen mussten, als wir Brooklyn und Queens in nordöstlicher Richtung durchquerten und nordwestlich auf die Bronx zuhielten.
Im Hillview-Staubecken schwamm Melusine mit mir eine Runde um den See. Sie genoss es, wieder das offene Wasser erreicht zu haben und aus den Rohren und Leitungen heraus zu sein.
Kehren wir jetzt in die City zurück? , fragte ich.
Doch Melusine antwortete nicht, sie stürzte uns stattdessen in den Delaware-Aquädukt und schoss zum Kensico-Staubecken
in Valhalla hinüber. Obwohl wir wieder gegen die Strömung schwammen, wurden wir schneller und schneller. Melusine brach ihr Schweigen nicht, aber jetzt fühlte ich ihr Verlangen. Das war deswegen möglich, weil unsere Moleküle sich auf der bisherigen Reise immer wieder gekreuzt und miteinander verschlungen hatten wie lange DNA-Stränge. Sie sehnte sich danach, weiter nach Norden zu ziehen, hinauf zu den Bergquellen, aus denen die Bäche und Flüsse entsprungen waren. Sie war ein Geschöpf der Quellen, nicht des Meeres, und deswegen hatte sie sich unter der Bucht mit ihrem Salzwasser so unwohl gefühlt. Sie war die Göttin der Quellen, die Quellnymphe. Ich sah, wie man sie an römischen und keltischen Bächen verehrte, und das Wasser flüsterte mir die Namen zu, unter denen man sie angebetet hatte … Sulis, Sequana, Conventina, Egeria, Sinann, Laga. Ich spürte die Liebe, die sie für Raimond de Lusignan empfunden hatte, und den Schmerz über seinen Verrat, als er sich angeekelt von ihr abwandte. Ich sah die langen Jahre, in denen sie das Chateau de Lusignan heimgesucht und mit ihrem Banshee-Geheul den letzten ihrer Nachkömmlinge ins Grab gesungen hatte. Schließlich fühlte ich die Trauer über das Exil und die tiefe Sehnsucht, zu ihrer Quelle zurückzukehren.
Ich war so gefangen von Melusines Geschichte, dass ich unseren Auftrag darüber vergaß und nicht mehr daran dachte, dass wir in die Stadt zurückkehren mussten. Ich wollte nach Norden in die Catskill Mountains zu den frischen Quellen unter den schneebedeckten Bergen. Aber während meine Moleküle sich mit Melusines verbunden und mir ihre Geschichte mitgeteilt hatten, so wusste sie nun auch über meine Bescheid. Sie hatte alles gesehen:
das Gesicht meiner Mutter, den Autounfall, das Kreischen berstenden Metalls, den Zusammenbruch meines Vaters … Sie war durch mein ganzes Leben gerast, bis zu dem Augenblick, in dem ich Dees Geschäft betrat; da hielt sie an und verharrte. Sie sah, wie er sich über die silberne Schatulle beugte, wie seine Schattenmänner bei uns einbrachen, betrachtete den gelben Nebel, der in mein Studio kroch und den Dämon Riesenmaul zum Leben erweckte, und den grauen Dunst, der den Mantikor in den Cloisters von seinem steinernen Torbogen gelockt hatte. Ich hörte sie über den Anblick der toten Sylphen weinen und spürte, wie ihr Zorn auf Dee wuchs. Wie ein Virus hatte er ihre Wasserstraßen verseucht und ihre Ströme genutzt, um den Tod zu bringen. Der Zorn brachte sie wieder zu sich, sie wandte sich um und riss mich mit sich. Wir schlossen uns der Südströmung durch den Delaware-Aquädukt an und ließen uns bis zum Hillview-Staubecken und zurück zur Pipeline Nummer 1 treiben.
Obwohl wir uns sehr schnell bewegten, hielt Melusine an jedem Schacht inne und nahm Witterung auf, ob sie Dees Anwesenheit irgendwo wahrnahm. Mir war, als könne sie ihn im Wasser aufspüren, als ob sie magnetisch von seinem Aufenthaltsort angezogen wurde. Auch ich roch ihn jetzt, nahm jenen Hauch von Schwefel wahr, den ich vor vier Nächten im Nebel gerochen hatte. Wir witterten ihn in der Nähe des Parks und dann wieder im West Village, aber die Spur war schwach und verlor sich. Melusine drängte uns zurück in die Hauptpipeline, trieb uns an, obwohl ich merkte, wie unwohl sie sich fühlte, als wir wieder unter dem East River hindurchtauchten. Sie beeilte sich und war bemüht, schnell wieder aus der Nähe des
Salzwassers herauszukommen. In ihrer Eile hatte sie die Möglichkeit, dass Dee sich ausgerechnet hier befinden konnte, gar nicht in Betracht gezogen. Es gab keine Schächte nach oben, nur eine direkte Leitung hinter dem Fluss hindurch, keine Verbindungsrohre … jedenfalls, wenn alles mit rechten Dingen zuging, hätte es eigentlich keine geben
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