Black Swan - Silberner Fluch
…
Dann fühlte ich, dass sich die Nachtluft regte. Etwas bewegte sich unter den Ästen der Kiefer. Eine dunkle Gestalt löste sich aus den Schatten, den der Baum auf den Rasen warf. Will kam in einem schwarzen Mantel, der sich wie ein Cape hinter ihm bauschte, auf mich zu, aber als er sich dem Feuer näherte, blieb seine Silhouette schwarz und fing keinerlei Licht auf. War er aus so viel Schwärze, dass ihn das Licht nicht berühren konnte? Doch dann erkannte ich, dass es an dem Schutzschild lag, den ich errichtet hatte. Er suchte mit den Augen den Rasen ab, das blasse Gesicht angespannt und wachsam, konnte mich aber nicht entdecken. Nun, dann musste ich mich zumindest nicht schämen, weil ich nackt war.
»Garet?«, rief er schließlich.
»Ich bin hier«, erwiderte ich.
Sein Kopf fuhr herum, und er sah mich direkt an – er hatte die Witterung eines Raubtiers. Seine Augen blickten genau in meine – ich war mir sicher, dass er mich sah -, aber dann wanderten sie ein Stück nach rechts, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln.
»Ah, du beherrscht den Irreführungsbann«, sagte er. »Du lernst schnell.«
Mir schien, als läge ein Hauch Bitterkeit in seiner Stimme. Hatte er Angst, dass ich genug gelernt haben könnte, um ihm nicht mehr zu vertrauen? Dees Warnungen fielen mir wieder ein.
»Nicht schnell genug, um selbst aus dieser Klemme herauszukommen … ähm … würdest du mir deinen Mantel leihen?«
»Meinen Mantel? Ah, dann hast du Melusine kennengelernt, und sie hat dir gezeigt, wie man zu Wasser wird.« Er streifte den langen Mantel ab und ließ die Hand über das Gewebe gleiten. »Hm … ich fürchte, er wird sich auf deiner zarten Haut viel zu rau anfühlen. Hier …« Er knöpfte sich das weiße Frackhemd auf und zog es aus. Seine Haut war ebenso weiß wie der Stoff und schimmerte im Sternenlicht wie kalter Marmor.
»Du musst wieder etwas sagen, damit ich weiß, wo du bist«, meinte er.
»Marco«, sagte ich.
»Polo«, antwortete er und grinste, als er das Hemd einen Zentimeter vor meinem Schutzschild auf den Boden fallen ließ.
Ich streckte die Hand durch die Pyramide und nahm das Kleidungsstück, und seine Augen weiteten sich, als es vor seinen Augen verschwand. Die fein mercerisierte Baumwolle glitt wie kühles Wasser über meine Arme. Meine Hände zitterten, als ich die Knöpfe schloss, aber mir war nicht mehr so kalt.
»Willst du mich denn nicht in deinen Salon einladen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich weiß, wie man das macht«, sagte ich, aber eigentlich dachte ich etwas ganz
anderes: Ich war mir nicht sicher, ob ich es überhaupt tun sollte.
»Du musst mir nur deine Hand geben.«
Ich stand auf. Er befand sich nur wenige Zentimeter von mir entfernt, konnte mich aber nicht sehen. Ich sah in die großen, silbrigen Augen und folgte der fein geschwungenen Linie seiner Wangenknochen bis hinunter zum Kinn, den Schlüsselbeinen, seiner breiten Brust, dem Relief der Bauchmuskeln … er sah nicht aus wie ein Wesen, das schon seit vierhundert Jahren tot war. Er wirkte lebendig … und gefährlich. War es wirklich eine gute Idee, ihn in meinen … wie hatte er es genannt … Salon zu bitten? Aber nun hatte ich ihn ohnehin hierhergerufen, und ich brauchte noch immer seine Hilfe.
Also steckte ich die Hand durch die silberne Wand der Pyramide. Seine Augen leuchteten auf, sobald sie vor ihm erschien, aber anstatt sie sofort zu ergreifen, verneigte er sich. »Ich danke Ihnen, Mylady«, sagte er. Dann legte er seine Hand in meine und trat durch den silbernen Schild.
Kaum, dass er die Pyramide betreten hatte, begann seine Haut, die kurz zuvor noch weiß gewesen war, im Feuerschein golden zu glühen. Ich fühlte, wie Wärme von ihm ausging.
»Du bist warm«, sagte ich, trat einen Schritt zurück und setzte mich ans Feuer. »Heißt das …«
»Ja, das heißt, dass ich kürzlich Nahrung zu mir genommen habe.« Er ließ sich neben mir nieder, aber so, dass ein paar Zentimeter Abstand zwischen uns blieben. »Du hast von mir nichts zu befürchten.«
»Ich verstehe. Also besitze ich nichts, was du begehren könntest.«
»Das würde ich nicht sagen.« Er wollte mein Gesicht berühren, aber ich wandte den Kopf ab, bevor seine Hand über meine Haut strich.
»Du willst die Schatulle, nicht wahr?«
Er erstarrte in seiner Bewegung. »Hat Dee das behauptet?«
»Er hat gesagt, du wolltest das Kästchen, um dich aus der Unsterblichkeit zu befreien. Stimmt das? Hat die Schatulle die Macht, dich …«
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