Black Swan - Silberner Fluch
Dinge wichtiger gewesen. Roman hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Weile mit derartigen Ziergegenständen gehandelt und hätte sie vermutlich einer bestimmten künstlerischen Periode zuordnen können. Ich konnte das jedenfalls nicht.
Vorsichtig hob ich das Kästchen in seinem Samtbeutel aus der Tasche und trug es zu meinem Arbeitstisch, der auf der anderen Seite des Zimmers stand, nahe den bis zum Boden reichenden Fenstern und unter dem leicht schrägen Oberlicht, das zum Garten hinausging. Tagsüber sorgte das helle Licht der Südfenster für einen idealen Arbeitsplatz. Ein alter Sekretär hatte genau in den kleinen Alkoven rechts vom Tisch hineingepasst; links stand ein hoher Bücherschrank aus Metall, in dem ich die Werkzeuge zur Schmuckherstellung und das Schrottmetall aufbewahrte, aus dem ich meine Skulpturen fertigte. Eine davon, ein Drache von einem Meter achtzig Länge, der aus Altmetall und Kettengliedern bestand, hing von einem Haken an der Decke. Bei Tag fingen seine roten Scheinwerferaugen das Licht und schimmerten dann mutwillig, aber heute Abend warf er einen düsteren Schatten über das mit Regentropfen besetzte Fenster, der mir ein leicht unbehagliches Gefühl vermittelte.
Ich knipste die leuchtstarken Arbeitslampen an, die auf beiden Seiten des Tisches angebracht waren. Das helle Licht enthüllte sofort, was mir in dem Geschäft gar nicht aufgefallen war: ein Muster aus silbernen und goldenen Formen, die in den blauen Samt eingearbeitet waren, Kreise, Dreiecke und Mondsicheln, verziert mit Schlangenlinien und Schnörkeln. Die Formen wirkten irgendwie vertraut.
Ich ging zu meinem Schreibtisch, klappte meinen Laptop auf und drückte die Power-Taste. Während ich darauf wartete, dass der Bildschirm zum Leben erwachte, ließ ich die Schatulle aus ihrer Samtumhüllung gleiten und fuhr mit den Fingern über die fein gravierten konzentrischen Ovale. Die hellen Studiolampen zeigten einen bläulichen Schimmer tief in den Linien – vielleicht eine zarte Einlegearbeit aus Emaille. Ich würde vorsichtig sein und darauf achten müssen, sie nicht zu beschädigen, wenn ich das Kästchen öffnete.
Dann wandte ich mich wieder dem Laptop zu und legte meine Finger auf das Touchpad … und fuhr zurück, als Funken von meinen Fingerspitzen flogen. Der Bildschirm flackerte, und aus dem Laptop tönte ein leises Jaulen, das wie eine läufige Siamkatze klang.
Verdammt! Während ich meine Hand ausschüttelte, sah ich, dass der Computerbildschirm sich wieder normalisierte und nun meine Homepage anzeigte. Ganz vorsichtig legte ich die Finger wieder auf die Tasten. Dieses Mal geschah nichts. Also tippte ich Symbols.com ein, machte auf der Webseite einige Angaben zu den Zeichen auf dem Stoff – einachsig offen, sowohl gerade als auch gebogene Formen, gekreuzte Linien – und klickte dann auf »Zeichen suchen«. Eine ganze Anzahl verschiedener Symbole wurde aufgerufen. Ich klickte auf eines, das zu den Mustern auf dem Stoff passte – ein nach unten offener Halbkreis, über dem sich eine vertikale, gerade Linie befand, die von zwei horizontalen Linien gekreuzt wurde -, und erhielt folgende Beschreibung: »Eines der Zeichen für Amalgam, das in der Alchemie und der frühen Chemie verwendet wurde. Amalgame sind Legierungen, die aus
der Verbindung von Quecksilber mit einem anderen Metall, bevorzugt Silber, entstehen.«
Natürlich. Das Symbol war mir bereits in einem meiner Metallurgie-Kurse begegnet. Ich gab »Alchemie« bei Google ein und klickte dann auf den Wikipedia-Treffer. Dort las ich, dass sich »Alchemie« von einem arabischen Wort ableitete, das die Kunst der Transformation bezeichnete. Historisch war diese Wissenschaft vor allem dafür bekanntgeworden, Metalle in Gold umwandeln zu wollen. Später hatte sich der Begriff Chemie daraus entwickelt. Beim Herunterscrollen entdeckte ich eine Liste berühmter Alchemisten und klickte schließlich auf eine Darstellung alchemistischer Symbole. Während ich den Blick zwischen dem Tuch und dem Bildschirm hin und her schweifen ließ, konnte ich die Symbole für Silber, Gold, Kupfer und Blei ausmachen, für einige der Planeten, Jahreszeiten und die vier Elemente: Erde, Luft, Feuer und Wasser.
War der weißhaarige Juwelier nun also ein verkappter Alchemist? Es hätte mich nicht überrascht. In der Goldschmiedeszene wimmelte es vor Exzentrikern und Romantikern. In meinen Kursen am FIT hatte ich mehr als nur ein paar Leute kennengelernt – Professoren wie auch Studenten -, die
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