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Blackbirds

Blackbirds

Titel: Blackbirds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Wendig
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einem Sessel, die Hand um den oberen Griff ihrer Sauerstoffflasche gelegt. »Es geht also um Ashley, sagen Sie.«
    Harriet setzt sich nicht. Sie steht, geht aber nicht auf und ab. Sie bleibt stockstill.
    »Das ist richtig. Haben Sie ihn gesehen?«
    »Nein.«
    »Kein Kontakt mit ihm?«
    »Ich habe es Ihnen doch gesagt, nein. Habe nicht das Geringste von ihm gehört. Keinen Pieps. Er ist verschwunden; vor Jahren, als bei mir Lugenemphysem aufgetreten ist, aus dem Nest geflüchtet, und ich schätze, er wird auch nicht mehr zurückkommen. Sind wir fertig?«
    Das alte Luder lügt. Es ist nur zum Teil wahr, dass Menschen gewisse universelle Züge haben, die darauf hindeuten, wann sie lügen, aber jeder hat individuelle verräterische Zeichen. Es bedarf eines gewissen Instinkts, um zu wissen, wann jemand einem anderen eine Lüge auftischt. Harriet besitzt diesen Instinkt. Es ist nicht eine einzelne Sache, die es ihr verrät. Bei Mrs Gaines liegt es im Tonfall, wie sie mit der Information herausplatzt, als ob »die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel«, wie es in Hamlet heißt. Es liegt in der Art, wie sie den Griff der Sauerstoffflasche fester umklammert, sie näher zu sich heranzieht. Harriet hat das Gespür eines Tiers. Sie kann die Täuschung praktisch riechen.
    »Mrs Gaines. Ihr Sohn. Ich möchte nur ungern denken müssen, Sie wollten unsere Untersuchung behindern. Wir versuchen ihm zu helfen, müssen Sie wissen. Wir versuchen, ihn vor einigen sehr schlechten Menschen zu beschützen.«
    Die Lippen der alten Frau beben. Ihre Stirn umwölkt sich.
    »Lassen Sie ihn in Ruhe!«, zischt sie. »Er ist ein guter Junge. Er schickt mir Geld.«
    »Geld? Wie viel Geld?«
    »Genug für meine Behandlungen.«
    »Wissen Sie irgendetwas über einen Koffer? Einen Metallkoffer?«
    Während sie am Sauerstoffschlauch herumfummelt, schüttelt Mrs Gaines den Kopf.
    Schließlich bewegt sich Harriet. Sie bewegt sich nicht schnell; sie kommt einfach näher und betritt die intime Distanzzone der Frau. Ihre Knie berühren fast die Sauerstoffflasche. Harriet verschränkt die Hände vor sich.
    »Wie ich sehe, sind Sie auf Sauerstoff«, sagt sie.
    »Habe ich Ihnen doch gesagt, Lungenemphysem. Kommt vom Rauchen. Der Großteil meiner Lungenkapazität ist hinüber. Ungefähr zwanzig Prozent sind noch übrig, sagen die Ärzte. Man kann sie nicht zurückkriegen, sagen sie. Verdammte Ärzte!«
    »Sie brauchen den Sauerstoff, um zu atmen.«
    Mrs Gaines zupft an den ausgefransten Rändern der Decke über ihrem Schoß. »Das ist das Konzept.« Die Worte kommen sarkastisch und bitter heraus.
    »Eine interessante Tatsache über Sauerstoff«, sagt Harriet, »wie Sie bestimmt von den vielen Warnhinweisen auf der Flasche und dem Ventil wissen, ist ...«
    Harriet holt ein Zippo-Feuerzeug mit einem auf das Metall aufgemalten Pfotenabdruck heraus.
    »... dass er leicht entzündbar ist.«
    Frankie stöhnt. »Ich werde uns Tee oder irgendwas machen gehen.«
    Harriet ist es recht. Für so etwas braucht sie Frankie nicht. Das hier ist ihre Sache, nicht seine. Sie haben beide ihre Nischen. Trotzdem fragt sie sich manchmal: Verliert er den Geschmack an seiner Arbeit? Hat er wirklich den Schneid dafür?
    Während Frankie das Zimmer verlässt, starrt Mrs Gaines aufs Feuerzeug wie das Kaninchen auf die Schlange.
    »Sie sind nicht vom FBI!«, zischt die alte Frau, während sie ihr Spiegelbild im Chrom beobachtet.
    »Ich sollte etwas klarstellen«, sagt Harriet. »Eigentlich ist Sauerstoff gar nicht leicht entzündbar. Vom Fachlichen her betrachtet man es als Brandbeschleuniger. So brennt Feuer – es wird von Sauerstoff gespeist. Er hilft einem Brand, sich schnell und effizient auszubreiten. Das Problem mit der Luft um uns herum ist, dass der Sauerstoff verdünnt ist. Aber das, was Sie einatmen, das ist das einzig Wahre. Vollkommen konzentriert.«
    »Bitte!«, sagt die alte Frau.
    Harriets Gesicht zeigt keine Gefühlsregung, aber in ihr drin macht ihr Herz Sprünge wie eine Gazelle. Diesen Teil liebt sie an ihrem Job besonders. Er ist ein kleines, pulsierendes Wärmezentrum in ihrem Verstand.
    »Würde ich ein Feuerzeug anmachen«, fährt Harriet fort, »würde die Gegenwart der Flasche und des kostbaren Sauerstoffs, der aus dem Schlauch zischelt, der Flamme helfen, über Ihren gebrechlichen, vertrockneten Körper zu fegen. Haben Sie schon einmal jemanden gesehen, der in Brand gesteckt wurde?«
    »Mein Sohn ...«
    »Vergessen Sie ihn. Denken Sie an sich selbst. Ich war ...

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