Blackbirds
Reifenschaukel schwingt an einer schweren Motorkette hin und her. Auf dem Reifen sitzt eine schwarze Krähe. Sie bewegt sich mit dem Reifen, als macheihr das Schaukeln Spaß. Dann knirschen Meeresmuscheln unter ihren Sohlen. Sie sind brüchig. Sie zerbrechen, wenn man darauftritt.
Miriam versucht, etwas zu sagen. Ihr Mund ist immer noch zugeklebt. Nur ein undeutliches Murmeln kommt heraus. Sie atmet durch die Nase, ein schwaches, trockenes Pfeifen.
Vor ihr liegt eine kleine Hütte. Geweißte Wände, am Fundament überall Moos. Wenigstens nicht schon wieder ein Motel , denkt sie.
Dann wird sie bewusstlos.
Ratsch .
Miriam reißt die Augen auf. Die Welt nimmt mit einem stürmischen wusch Form an. Ihr Blut rauscht in ihren Ohren, irgendeine Unterströmung zerrt sie wieder in Richtung volles Bewusstsein.
Miriam erkennt, dass sie in einer Dusche hängt, deren verblasste Kacheln die Farbe von Seeschaum haben.
Ihre Hände sind über ihr zusammengebunden und hängen am Duschkopf.
Ihre Füße, die ebenfalls noch zusammengebunden sind, berühren kaum den Boden der Badewanne unter ihr. Sie muss auf Zehenspitzen stehen. Sie hat keine Möglichkeit, sich zu bewegen, nur die Möglichkeit, wie ein Wurm am Haken herumzuzappeln.
Frankie steht im Türrahmen, doch er ist zu groß. Er muss sich bücken, um hineinzupassen.
Glatze sitzt entspannt auf dem Toilettensitz. Streifen von Rot – wie der Mascara eines heulenden Mädchens – laufen über seine Wangen. In seinem Schoß liegt Miriams Tagebuch. Vorsichtig schließt er es.
Harriet wedelt mit dem Klebeband, das sie gerade von Miriams Mund gerissen hat, vor ihrem Gesicht herum – seltsame Art, jemanden zu ärgern – und tritt dann zurück.
»Ich habe dieses Buch gelesen«, sagt Glatze und tippt mit dem Buch auf seinen Oberschenkel.
»Fick dich«, murmelt Miriam.
Glatze schüttelt den Kopf, während Harriet ihre Finger in schwarze Handschuhe quetscht. »Es ist so langweilig, dass du das immer wieder sagst. Fick dies, fick das, fick mich, fick dich. So ein ungezogenes kleines Mädchen. Harriet, ich sehe die letzten Reste eines Veilchens um ihr Auge herum. Bitte, würdest du das mal etwas auffrischen?«
Harriet tritt an den Rand der Badewanne heran und versetzt Miriam mit ihrer Handschuhfaust einen Schlag aufs Auge. Miriams Kopf zuckt zurück.
»So ist es richtig, ja«, sagt Glatze. »Das wird dich daran erinnern, in so illustrer Gesellschaft immer höflich zu bleiben. Und wo wir schon von den Toten reden. Du hast so eine intime Beziehung mit dem Tod, stimmt’s?«
»Mit den Sterbenden«, krächzt Miriam. »Nicht so sehr mit dem Tod.«
»Ja, und wir sterben doch alle, nicht wahr?«
»Tun wir. Schön gesagt.«
»Danke. Siehst du? Das ist die Höflichkeit, die ich von dir erwarte. Gut.« Glatze hält das Buch hoch und gestikuliert damit. »Ich glaube, was du in diesem Buch geschrieben hast, ist die Wahrheit. Ich glaube nicht, dass es sich um die Fantasie einer Verrückten handelt, auch wenn du ganz schön verrückt bist. Vielleicht sollte ich dir von meiner omie , meiner Großmutter, erzählen?«
»Na los doch. Ich werd’ sicher nirgendwohin gehen.«
Glatze lächelt. In seinen Augen blitzen liebevolle Erinnerungen auf.
ZWISCHENSPIEL
Die Hexe
Meine Großmutter Milba war eine Hexe.
Schon als kleines Mädchen hat sie beim Preiselbeerenpflücken draußen im Moor Dinge sehen können. Ihre Visionen kamen nicht einfach so über sie, sie kamen, weil sie die Welt um sich herum genau beobachtete. Sie berührte Dinge, Dinge in der Natur, die Dinge des Moores, und diese Dinge sagten ihr, was geschehen würde.
Wenn sie die Knochen einer Schlange fand, dann konnte sie sie in die Hand nehmen, sie in ihren kleinen Fingern herumrollen, sie sah, wie das Sumpfwasser daran herablief, und daraus konnte sie erkennen, was mit ihrem Vater später passieren würde, wenn er zum Markt ging, oder dass ihre Schwester sich einen Splitter unter den Zehennagel reißen würde.
Sie konnte Beeren in der Hand zerquetschen und dann in den roten Überresten lesen. Das konnte ihr sagen, wie das Wetter werden würde. Wenn sie über die Rinde eines Baums strich, konnte sie sehen, welche Vögel in dem Baum nisteten, und wenn sie einem jungen Kaninchen das Genick brach, wusste sie, wo die Kaninchenfamilie hauste.
Später, als ich ein Kind war und wir schon hier in diesem Land lebten, saß meine omie auf den Stufen zu unserem Haus und schärfte ihre Messer am Weg und der Treppe. Sie schälte Erbsen
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