Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blackbirds

Blackbirds

Titel: Blackbirds Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Wendig
Vom Netzwerk:
oder putzte Bohnen und schloss die Augen, um zu sehen, was ihr das sagte. Im Alter war omie klein und vertrocknet, ein knorriger Ast mit arthritischen Klauen und einer Nase wie ein Angelhaken. Die Nachbarn dachten, sie sei seltsam, weil sie ständig vor sich hinmurmelte, und nannten sie deshalb eine Hexe.
    Sie benutzten das Wort als Schimpfwort. Sie wussten nicht, dass sie Visionen hatte. Sie kannten die Wahrheit nicht.
    Sie sollten sie kennenlernen.
    Es kam der Tag, an dem ich in der Schule schon wieder gehänselt wurde. Ich war ein dünnes Kind, kränklich, und dazu kam, dass ich ohne ein einziges Haar auf meinem wurmartigen Körper geboren worden war. Ebenso war mein Englisch zu dieser Zeit nicht besonders gut, und ich hatte oft Probleme damit, mich so gut auszudrücken wie die anderen Kinder.
    Der Junge, der mich drangsalierte, ein Junge namens Aaron, war Jude. Er hatte einen fetten Bauch, war muskulös und hatte lockiges Haar, und er sagte, er hasse mich, weil ich ein Deutscher sei, »ein verdammter Nazi«, auch wenn ich gar nicht deutsch war. Ich kam aus Holland, sagte ich ihm immer wieder, aus Holland.
    Es machte keinen Unterschied. Zuerst blieb die Hänselei im üblichen Rahmen. Er schubste mich herum und schlug auf mich ein, bis meine Nase blutete und ich von blauen Flecken übersät war.
    Aber es wurde mit jedem Tag schlimmer.
    Er verbrannte meinen Arm mit brennenden Streichhölzern. Er stieß mir Dinge ins Ohr – kleine Steine, Stöckchen, Ameisen –, bis es sich entzündete. Er wurde immer frecher und grausamer. Er zwang mich, die Hosen herunterzuziehen, und tat mir Dinge an – er schnitt mit einem Messer in die Innenseite meiner Schenkel und stach mir in den Hintern damit.
    Also ging ich zu meiner Großmutter. Ich wollte wissen, wann das alles endlich aufhört. Ich sagte ihr, zeig es mir, zeig mir, wann es aufhört! Ich wusste, was sie war, was sie tun konnte, aber war immer zu ängstlich gewesen, um zu fragen. Ich hatte mich vor ihr gefürchtet. Aber jetzt war ich verzweifelt.
    Omie sagte mir, dass sie mir helfen würde. Sie setzte mich an einen Tisch und sagte: »Fürchte dich nicht vor dem, was ich sehe, denn was ich sehen kann, ist Teil der Natur. Es istnatürlich. Ich lese die Dinge der Natur, wie Knochen oder Blätter oder Insektenflügel, und sie sagen mir, was geschehen wird. Die Welt hat ein seltsames Gleichgewicht, und was ich sehen kann, hat genauso viel mit Magie zu tun, als würdest du die Straße entlangblicken und einen Briefkasten sehen oder den Mann, der dort entlangläuft – ich sehe einfach, wie alles zusammenhängt.«
    Omie hatte ein Glas voller Zähne, Zähne vieler Tiere, die sie über die Jahre hinweg gesammelt hatte, und sie leerte dieses Glas vor mir aus. Sie befahl mir, den Schorf einer der Brandwunden auf meinem Arm abzupulen, nahm etwas von dem Blut auf die Fingerspitze und fuhr damit über die daliegenden Zähne.
    Omie sagte mir: »Deine Leiden werden bald vorbei sein. Morgen Nacht.«
    Ich war begeistert. »So bald schon?«
    Und sie sagte ja. Sie hatte es vorhergesehen. Aaron würde bald seinem Tod ins Auge blicken.
    »Er wird sterben?«
    Sie nickte.
    Ich war nicht traurig darüber. Ich zweifelte auch nicht. Ich war glücklich.
    Am nächsten Abend ging ich mit einer Erwartung ins Bett, mit der ein Kind auf den Weihnachtsmann wartet. Ich konnte nicht schlafen. Ich war zu aufgeregt und fürchtete mich auch ein bisschen.
    Ich hörte draußen ein Geräusch. Kratzend. Metall auf Stein.
    Es war omie. Sie hatte eines ihrer Küchenmesser genommen, es auf den Stufen geschärft und war dann zu Aarons Haus gegangen – das weniger als eine Meile die Straße runter lag. Wie ein gekrümmter Schatten schlich sie in sein Zimmer. Und während er schlief, erstach sie ihn. Sie stach hundert Mal auf ihn ein.
    Sie kam wieder in mein Zimmer und sagte mir, was sie getan hatte, dann gab sie mir das Messer.
    »Manchmal müssen wir selbst entscheiden, was wir auf der Straße sehen«, sagte sie.
    Dann ging sie wieder nach draußen, um zu warten.
    In den frühen Morgenstunden kamen sie, um sie zu holen. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Tat – ihr Kleid war voll vom Blut des kleinen Tyranns. Ich weiß nicht, was sie schließlich mit ihr gemacht hätten, vielleicht hätte man sie gelyncht, aber es war zu spät.
    Sie war dort auf den Stufen gestorben.
    Eine krumme kleine Gestalt, eine Trauerweide. Tot.
    Ich habe um sie geweint.
    Um Aaron habe ich nicht geweint.
EINUNDDREISSIG
    Der haarlose

Weitere Kostenlose Bücher