Blackmail: Thriller (German Edition)
sich niemals an einen Menschen zu binden, weil er ihn jeden Augenblick verlieren kann.«
»Kommt Marko immer so spät nach Hause?«
»Ehrlich gesagt kommt er manchmal gar nicht nach Hause. Er schläft dann bei Alicia.«
»Alicia Reynolds?«, frage ich und denke an ein unruhiges Mädchen aus der Senior-Klasse.
»Das ist richtig.«
Ich biege auf die Umgehungsstraße ab und fahre in Richtung von Pauls Viertel. »Paul, haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen wegen Marko stelle?«
»Ganz und gar nicht. Ich weiß, dass Sie sich im Schulbeirat für Marko eingesetzt haben, und dafür danke ich Ihnen. Aber bevor Sie mir Fragen stellen, lassen Sie mich eins sagen. Ich weiß, dass viele Menschen glauben, ich würde einfach den Kopf in den Sand stecken, wenn es um diesen Jungen geht. Aber das ist absolut nicht der Fall. Niemand hier in Natchez hat eine Vorstellung, was Marko drüben in Bosnien durchgemacht hat. Er war in der schlimmsten Zeit des Krieges in Sarajevo, Penn. Er war zehn Jahre alt und hat unaussprechliche Dinge gesehen. Niemand kann so etwas miterleben und unbeschadet daraus hervorgehen – erst recht kein Kind. Marko spricht nicht darüber, doch ich weiß ein paar Dinge.«
»Würden Sie mit mir darüber sprechen? Es könnte für die gegenwärtige Situation wichtig sein.«
»Nun ja … Marko erinnert mich an jenen Jungen in Das Reich der Sonne, den Spielberg-Film über den Zweiten Weltkrieg. Christian Bale spielt die Rolle. Er ist in einem Gefangenenlager, und die Bedingungen sind abscheulich. John Malkovich lehrt Bale zu überleben, und Bale wird zu einem gerissenen Gauner. Das ist Marko. Und wenn das erst geschehen ist, ändert man sich nicht über Nacht wieder, nur weil man in das Land kommt, in dem Milch und Honig fließen.«
»Haben Sie Marko je gewalttätig erlebt?«
»Niemals.«
»Die anderen Kids in der Schule denken, dass er eine Waffe trägt.«
Schweigen. »Ich habe ihn nie mit einer Pistole gesehen. Ichsage nicht, dass es unmöglich ist, angesichts seiner Paranoia. Aber ich habe nie eine Waffe bei ihm gesehen. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn ich eine entdecken würde.«
Du wärst enttäuscht. Jemand anders wäre tot. »Bewahren Sie Waffen im Haus auf, Paul?«
»Nein. Ich bin überzeugt, dass Feuerwaffen nicht in die Hände von Bürgern gehören.«
»Hm.«
»Penn, ich habe Gerüchte gehört, dass der Beirat überlegt, Marko von der Schule zu verweisen. Vielleicht sogar dafür zu sorgen, dass er des Landes verwiesen wird.«
Wunderbar. Wie ich Holden Smith bereits sagte: Nichts, was in diesen Sitzungen besprochen wird, bleibt geheim. »Ganz unter uns, Paul – es stimmt. Aber ich habe den anderen gesagt, dass dann erst der Beweis erbracht werden muss, dass Marko gegen die Schulordnung verstoßen hat.«
»Ich verstehe. Penn … ich weiß, es ist bereits spät, aber vielleicht sollten wir eine persönliche Unterhaltung über Marko führen, unter vier Augen. Wenn er in ernsten Schwierigkeiten steckt, muss ich wissen, wie groß seine Probleme sind. Und ich weiß ein paar Dinge über seine Erlebnisse in Sarajevo, von denen Sie vielleicht auch erfahren sollten.«
Ich blicke auf meine Uhr. Es ist fünfunddreißig Minuten vor Mitternacht. Mia wird inzwischen wahrscheinlich nervös. Andererseits ist Marko Bakic das größte Fragezeichen in dieser ganzen verdammten Geschichte. Und nachdem Sonny Cross ihm erst am Nachmittag die Pistole in den Mund gesteckt hat, vermag niemand zu sagen, was er heute Abend tun wird.
»Das ist eine gute Idee, Paul. Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.«
»Ich mache eine Flasche Wein auf.«
Ich wähle die Nummer von zu Hause, und Mia meldet sich mit wacher Stimme.
»Wie kommst du zurecht, Mia?«
»Alles in Ordnung. Annie schläft tief und fest.«
»Warum bist du noch wach?«
»Ich hab das Buch von Bowles ausgelesen und mit The Secret History angefangen. Ich wollte eigentlich nur ein Kapitel lesen, aber dann hat es mich total gefesselt. Ich kann nicht glauben, dass es von einer Frau aus Mississippi geschrieben wurde.«
»Noch dazu in Schreibschrift, nicht auf einer Maschine. Vergnügst du dich eigentlich nie?«
»Das ist meine Art, mich zu vergnügen, ob du’s glaubst oder nicht.«
Ich will Mia gerade fragen, ob sie noch eine Stunde länger bleiben kann, als statisches Knacken und Rauschen aus dem Lautsprecher kommt. Dann begrüßt mich die Stille einer unterbrochenen Verbindung. Ich beschleunige den vor mir liegenden Hügel hinauf, bis das
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