Blackmail: Thriller (German Edition)
Ansprache Reverend Mills vorstellt, schweifen meine Gedanken ab. Diese Sporthalle war der Hintergrund für einige der folgenreichsten Ereignisse meines Lebens. Mehrere der königsblauen Fahnen an den Wänden tragen meinen Namen in goldener Schrift, zusammen mit den Namen der anderen Jungen, die ich seit meinem vierten Lebensjahr bis zum heutigen Tag kenne. Hier in dieser Halle haben wir uns versammelt, um in einem alten, klapprigen Bus loszufahren und Staatsmeisterschaften in Basketball, Baseball, Football und Leichtathletik zu erringen. Wenn ich die Augenschließe, höre ich immer noch das Trommeln des Regens auf dem Blechdach der Halle, während wir im Sportunterricht Basketball trainierten, sogar Football, wenn es draußen geregnet hat, barfuß, um das Holz des Bodens zu schonen, in Shorts, mit Schulterpolstern und Helmen. Auf diesem Boden habe ich bei schulischen Tanzveranstaltungen unter den wachsamen Augen erwachsener Begleitpersonen meine ersten Küsse geraubt, bei Sportbanketts gegrilltes Hühnchen heruntergeschlungen, an Schulfeiertagen Auszeichnungen entgegengenommen, unsere Schulmannschaften angefeuert und als Strafe für verschiedene Verstöße unendlich viele Sprints absolviert.
Es ist kein Begräbnis-, sondern ein Gedächtnisgottesdienst. Die eigentlichen Begräbnisse beginnen in weniger als einer Stunde in den Kirchen in der Innenstadt. Schüler der zehnten Klassen und darüber bekommen frei, um daran teilnehmen zu können, falls sie es wünschen. Der Rest sitzt im Unterricht und tut so, als würde er arbeiten, während alle sich fragen, was bei den Beerdigungen wohl passiert.
Inzwischen hält Reverend Mills seine Ansprache und gibt sich die größte Mühe, mit einem der schwierigsten Probleme umzugehen, mit dem sich jeder Gläubige konfrontiert sieht: warum ein unschuldiger junger Mensch aus keinem erkennbaren Grund getötet wird, als sein Leben eigentlich erst anfängt. Meiner Meinung nach macht der Reverend seine Arbeit nicht besonders gut. Er scheint nach dem Motto »Gottes Wege sind für uns Sterbliche unergründlich« vorzugehen. Ich habe mit vierzehn Jahren aufgehört, an diese Hypothese zu glauben, und ich bezweifle stark, dass er Resonanz findet bei den Schülern, die heute auf den Bänken sitzen.
Meine Blicke schweifen über die Menge, als mir bewusst wird, dass ich nach Marko Bakic suche. Ich kann ihn nirgendwo entdecken. Ich nehme an, der ausgebrochene Drogenkrieg hat seine Ansichten über den Wert einer Ausbildung an einer amerikanischen Highschool relativiert.
Reverend Mills fährt nun mit dem missionarischen Teilseiner Grabrede fort. Genauso wie Jan Chancellor zuvor scheint er nicht die Absicht zu haben, sich mit den Problemen von Sexualmord oder Drogenmissbrauch zu befassen. Während seine tiefe Bassstimme weiterrumpelt, frage ich mich, wer endlich die Gefühle dieser Studenten und der ganzen Stadt zum Ausdruck bringen wird. Nach dem beispiellosen Verlust von Kate und Chris haben die Neuigkeiten des gestrigen Abends die Stadt mit der Wucht eines Tornados heimgesucht. Ich habe die Stadt niemals in einem derartigen Aufruhr gesehen, nicht einmal während der Rassenunruhen von 1968. Damals hatte man die Bedrohung wenigstens begriffen. Heute ist jedes Gefühl von Kontrolle verloren. Als ich heute Morgen durch die Innenstadt gefahren bin, hatte ich das Gefühl, als wären die Straßen buchstäblich luftleer. Die Leute eilten mit gesenkten Köpfen über die Bürgersteige wie mittelalterliche Dorfbewohner, die den Ansturm einer unbekannten Katastrophe erwarteten. So viele Tote in so wenigen Tagen fordern die Frage nach göttlicher Vergeltung förmlich heraus, und ich bin sicher, dass diese Theorie zumindest in einigen Haushalten tatsächlich geäußert wurde.
Mills’ einschläfernder Sermon erweckt in mir den Wunsch aufzustehen und Quentin Avery anzurufen, der jetzt in diesem Augenblick seine Büroräume im Eola Hotel bezieht. Doch dann übergibt Mills fast übergangslos das Wort an seinen »presbyterianischen Kollegen«, Reverend Dean Herrick. Herrick ist ungefähr in meinem Alter, und wir sind uns bereits einige Male begegnet. Er kommt aus Tennessee und scheint liberalere Ansichten zu vertreten als jeder seiner Vorgänger oder Kollegen. Herrick hat ungefähr zehn Kilo Übergewicht und bekämpft seinen zurückweichenden Haaransatz mit der berüchtigten Diagonalfrisur. Er steht schweigend am Rednerpult und mustert die versammelten Schüler aus dunklen Augen.
»Jungen und Mädchen«,
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