Blackmail: Thriller (German Edition)
natürlichen Anführer, der getreu Kiplings Rat sowohl Sieg als auch Niederlage als trügerische Freunde behandelte und dem es trotzdem gelang, Meisterschaftstitel einzufahren. Eine hochgezogene Augenbraue war bei ihm das Äquivalent eines Wutausbruchs von Wade Anders. Doch heute steht nur noch der Name meines alten Trainers über dem Eingang zur Sporthalle, und ist es Wade Anders, der auf seinem Stuhl und in seinem Büro sitzt – ein weiteres Zeichen, wie sehr die Welt sich verändert hat.
»Wade?«, frage ich leise.
Anders zuckt zusammen; dann springt er hastig auf. »Penn! Was kann ich für Sie tun?«
»Ich wollte mich nach Marko erkundigen.«
Anders schüttelt den Kopf. »Dieser Junge … was möchten Sie wissen?«
»Haben Sie Marko in den vergangenen beiden Tagen gesehen?«
»Nein. Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Einfach so. Und ich habe ein Stipendium für ihn an der Delta State schon so gut wie in der Tasche. Die brauchen da einen neuen Kicker, und das kann der Junge am besten. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, es ist so ungefähr das Einzige, was er auf einem Footballfeld zustande bringt.«
Ich schenke Wade das Lachen, das er erwartet.
»Ich habe gehört, Marko wäre bei Ihnen gewesen an dem Nachmittag, als Kate starb.«
»Ja. Er ist von der Schule aus mit mir zusammen nach Hause gefahren. Ich hab mit ihm an seiner Schusstechnik gearbeitet und dann mit ein paar Collegetrainern herumtelefoniert, wegen des Stipendiums für den Jungen. Ich habe für diesen verdammten Narren getan, was ich konnte. Ich wusste, dass er mit Drogen zu tun hatte und dachte mir, ein Footballprogramm an einem College würde ihn davon wegbringen. Selbst wenn es ein Programm an einem Junior College gewesen wäre.«
»Und jetzt?«
»Verdammt, Penn, wenn Marko nicht bald wieder zum Unterricht erscheint, wird er nicht mal seinen Abschluss kriegen. Ich hab bereits mit seinen Lehrern geredet. Er gilt praktisch jetzt schon als Durchfaller.«
»Setzen Sie sich, Wade. Das ist keine offizielle Unterredung. Nur wir beide, ein Gespräch unter vier Augen, okay?«
»Sicher.« Anders setzt sich, doch er blickt unbehaglich drein. Die Tatsache, dass ich Mitglied des Schulbeirats bin – und noch dazu Anwalt – reicht wahrscheinlich aus, um ihn nervös zu machen. Außerdem scheint sich noch irgendetwas anderes hinter der normalen Nervosität zu verbergen.
»Haben Sie Marko zum Haus der Wilsons gefahren, nachdem Sie mit den Anrufen fertig waren?«
»Nein. Ein paar andere Jungs haben ihn abgeholt.«
»Kannten Sie die Jungs?«
Wade schüttelt den Kopf. »Es waren Schwarze. Sahen aus, als gehörten sie zu einer Gang. Drogenjunkies vielleicht.«
»Um wie viel Uhr war das?«
»Kurz nach sechs. Marko hat gesagt, sie würden nach Baton Rouge fahren, um ins Kino zu gehen.«
»Hat er Ihnen gesagt, was für einen Film sie ansehen wollten?«
»Adam Sandler, glaube ich. Ich kann mich nicht an den Titel des Films erinnern.«
Ich beobachte Wade ein paar Sekunden lang schweigend, während ich überlege, was ich sonst noch von ihm erfahrenkönnte. Er sieht mich gebannt an und ist sichtlich nervös. »Hat Marko mit Ihnen über seine Erlebnisse in Europa gesprochen?«, frage ich.
»Er hat mir erzählt, dass er mit ansehen musste, wie seine Familie ermordet wurde. Es war in einem Ort namens Srebece oder so ähnlich. Markos Heimatort. Er hat eine schreckliche Narbe an der Bauchdecke. Als ich ihn danach gefragt habe, hat er mir von seiner Familie erzählt. Die Narbe stammt von einem Bajonett. Er hat keine weiteren Einzelheiten geschildert.«
»Haben Sie ihn gefragt?«
»Einmal, ja. Auf dem Heimweg von einem Auswärtsspiel, spätabends im Teambus. Er wollte nicht darüber reden.«
»Manche Leute halten Marko für gefährlich. Sie glauben, er wäre zu brutaler Gewalt fähig.«
Anders zuckt die Schultern, als halte er dies für unwahrscheinlich. »Das glaube ich nicht. Marko hasst die Serben, weil sie seine Familie umgebracht haben. Wenn Sie mich fragen, ob Marko einen Serben töten könnte, würde ich Ihnen den Rat geben, sich lieber nicht zwischen die beiden zu stellen.«
»Wie stand Marko zu den Wilsons?«
Wade lacht auf. »Er hat sie gemocht. Sie haben ihm die meiste Zeit alles durchgehen lassen – wie sollte er sie nicht mögen? Professor Wilson schwebt sowieso die meiste Zeit in einer anderen Welt. Schwebte, wollte ich sagen.«
»Sie meinen, er war geistesabwesend? Mit den Gedanken woanders?«
»Das auch, nehme ich an. Aber
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