Blackmail: Thriller (German Edition)
sich über die Stirn. Er scheint überwältigt von seiner eigenen Leidenschaft. »Die Bibel sagt uns, dass es die Sünde war, durch die der Tod einen Weg in die Welt gefunden hat. Und manche Menschen ziehen unverantwortliche Rückschlüsse aus diesen Worten. Es hat eine Menge Gerede gegeben über Kates Privatleben, ein geheimes Leben, in das keiner von uns eingeweiht war. Und es hat auch eine Menge Gerede gegeben über Chris Vogel.«
Die Eltern an der hinteren Wand geraten erneut in Unruhe.
»Ja, Kate hatte Geheimnisse«, sagt Herrick. »Auch Chris hatte Geheimnisse. Kate suchte Liebe und Bestätigung, und sie fand beides auf ihre Weise. Chris brauchte Hilfe, um den Stress dieser Welt zu ertragen, und er fand sie, wo er konnte. Doch ich verdamme diese Kinder nicht dafür. Wie könnte ich? Auch ich brauche Liebe und Bestätigung. Auch ich brauche Hilfe, um den Stress dieser Welt zu ertragen, genau wie jeder andere von uns. Und ich will euch sagen, was mich heute so quält. Es ist nicht das, was Kate und Chris im Leben getan haben, sondern was sie nicht getan haben. Sie sind nicht mit ihren Ängsten und Sorgen zu mir gekommen. Und die Schuld daran liegt bei mir. Bei uns. Irgendwie haben wir Kate und Chris nicht das Gefühl gegeben, sie genug zu lieben, als dass sie mit ihrem Schmerz und ihrer Einsamkeit zu uns gekommen wären. Und ich weiß eines: Kate und Chris sind nicht die einzigen unter uns, die Geheimnisse haben. Wir alle tragen unsere heimlichen Bürden. Wir alle tragen Schuld in uns. Wir alle sündigen. Das ist der Grund, warum der Tod zu allen Menschen kommt. Ein vorzeitiger Tod ist keine Strafe, die von Gott gesendet wurde. Zu denen unter euch, die im Stillen leiden, sage ich: Bitte leidet nicht alleine. Und zu jenen, die Böses sagen über Kate,wiederhole ich die Worte des Jesus von Nazareth: ›Der, der ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!‹«
Reverend Herricks Worte donnern mit unerwarteter Macht durch die Halle. Die Kinder scheinen sprachlos ob seiner Aufrichtigkeit. Ich spüre, dass einige am liebsten aufstehen und applaudieren würden. Als Herrick zu seinem Platz zurückkehrt, ist das Klacken seiner Absätze auf dem Boden das einzige Geräusch in der Halle. Jan Chancellor erhebt sich ein weiteres Mal, wahrscheinlich, um den Schulkaplan vorzustellen, doch Reverend Herricks Worte sind alles, was ich noch zu Kates Tod hören muss. Ich sitze in der hinteren Reihe, nahe genug bei der Tür, um diskret nach draußen zu gehen, und das tue ich dann auch.
Auf dem Weg durch die vertrauten Gänge und Flure beschließe ich, direkt zum Eola Hotel zu fahren, um mich mit Quentin Avery zu unterhalten. So erfahren der berühmte Anwalt auch sein mag, sein vordergründiges Motiv ist nicht, Drews Freispruch zu erreichen, sondern Shad Johnson zu torpedieren. Mir bleibt nicht viel Zeit, wenn ich Kates Begräbnis nicht versäumen will. Mein Interesse an ihrer Beerdigung ist weniger persönlicher als professioneller Natur. Mörder besuchen häufig die Beerdigungen ihrer Opfer, insbesondere in Fällen von Sexualmord. Ich habe meine Digitalkamera im Wagen, um Bilder von allen zu machen, die sich am Grab einfinden, für den Fall, dass die Cops es vergessen. In einer Stadt mit durchschnittlich nicht mehr als einem oder zwei Morden pro Jahr würde mich das nicht weiter überraschen.
Auf dem Weg nach draußen komme ich an der Hintertür des Büros von Coach Anders vorbei. Kurz entschlossen trete ich ein, um nach dem Ende des Gottesdienstes ein paar Worte mit dem sportlichen Leiter der Schule zu wechseln. Genau wie ich hat Anders den Gottesdienst früher verlassen. Er sitzt an seinem Schreibtisch und starrt mit leerem Blick auf ein Poster von Peyton Manning an der Wand. Wade Anders ist dreißig, trägt die schwarzen Haare kurz geschnitten und besitzt den Körper eines alternden Athleten, der seine beste Zeit hinter sichhat. Um seine Leibesmitte wächst langsam ein Rettungsring, doch seine Beine und Arme sind immer noch muskulös und definiert. Anders lacht gerne und ist kooperativ, wenn er mit dem Schulbeirat zu tun hat, doch ich habe gesehen, wie er bei Auswärtsspielen die Beherrschung verloren hat und aus der Halle gewiesen wurde. Die Schüler scheinen ihn zu mögen, doch sie kennen ja auch niemanden außer ihm. Wenn ich Anders sehe, denke ich mit Wehmut an den Trainer zurück, den ich damals an der St. Stephen’s hatte, einen sanftmütigen Athleten mit einer väterlichen Art und einem stählernen Blick, einen
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