Blackout
Schopf über dem ovalen Gesicht, der dramatisch mit den südländisch-spanischen Zügen kontrastierte. Abgesehen von diesen Gesichtszügen war sie das klassische, das ›goldene‹ kalifornische Mädchen. Eines von der Art, die eigentlich mit dem Gesicht nach unten im Sand am Strand von Malibu liegen, das Oberteil des Bikinis aufgeknöpft, den glatten, bronzebraunen Rücken der Sonne ausgesetzt. Ein Mädchen für die Cola-Werbung und die Autoausstellungen, das auch mal in BH und Shorts zum Markt laufen und etwas zu trinken holen konnte. Ein solches Mädchen hätte nicht als mißhandeltes, lebloses Stück Fleisch in einer Kühlschublade des Leichenhauses enden dürfen.
Raquel Ochoa nahm mir das Photo aus der Hand, und ich dachte, in ihrem Gesicht so etwas wie Eifersucht erkannt zu haben.
»Sie ist tot«, sagte sie, steckte das Bild ein und zog die Stirn in Falten, als ob ich irgendeine Lästerung begangen hätte. »Nach dem Photo zu urteilen, müssen die Kinder sie angebetet haben«, sagte ich.
»Das stimmt. Und jetzt müssen sie mit irgendeiner alten Kuh auskommen, der ihr Lehrauftrag und ihre Arbeit mit den Kindern völlig egal ist. Jetzt, wo Elena - nicht mehr hier ist.«
Sie begann zu weinen und benutzte die Serviette, um ihr Gesicht zu verdecken. Ihre mageren Schultern zuckten. Sie sank tiefer nach unten, als ob sie verschwinden wollte, und schluchzte heftig.
Ich stand auf, trat neben sie und legte meine Arme um ihre Schulter. Sie war so verletzlich wie Spinnweben. Als ich sie festhielt, merkte ich, daß es sich gut anfühlte. Sie roch gut. Das war eine überraschend weiche, feminine Person, die ich da umarmte. Ich stellte mir vor, wie ich sie, das Federgewicht, auf beide Arme hob und zu einem Bett trug, auf dem ich ihr Weinen und ihren Kummer mit dem elementarsten aller Heilmittel stillte: dem Orgasmus. Eine törichte Phantasie, weil es mehr als einer Umarmung und eines Geschlechtsverkehrs bedurfte, um ihre Probleme zu beseitigen. Töricht auch, weil es ja gar nicht darum ging. Ich fühlte eine ärgerliche Hitze und Spannung in meinen Lenden. Eine Erektion, die im ungünstigsten Augenblick entstanden war. Dennoch hielt ich Raquel fest, bis ihr Schluchzen nachließ und ihre Atmung regelmäßig wurde. Schließlich dachte ich an Robin, ließ sie los und ging wieder auf meine Seite des Tischs zurück.
Sie wich meinen Blicken aus, nahm ihre Schminkdose heraus und reparierte das Make-up. »Das war wirklich dumm.«
»Im Gegenteil. Das ist der Sinn von Nachrufen.«
Sie überlegte einen Moment, dann brachte sie ein schwaches Lächeln zustande.
»Ja, ich glaube, Sie haben recht.« Sie langte über den Tisch und legte ihre kleine Hand auf die meine. »Danke. Aber sie fehlt mir so sehr.«
»Das kann ich verstehen.«
»Ja, wirklich?« Sie zog die Hand weg, schien plötzlich ärgerlich zu sein.
»Nein, ich glaube nicht. Ich habe nie jemanden verloren, der mir so nahegestanden hat. Aber sind Sie trotzdem bereit, eine aufrichtige Mitleidskundgebung entgegenzunehmen?«
»Entschuldigen Sie. Ich bin sehr unhöflich - seit dem Augenblick, als Sie ins Klassenzimmer gekommen sind. Aber es ist so schwer. All diese Gefühle: Trauer, Leere und Wut auf das Ungeheuer, das es getan hat- es muß doch ein Ungeheuer gewesen sein, oder?«
»Ja.«
»Werden Sie es fangen? Wird der große Detective es fangen?«
»Er ist ein sehr fähiger Mann, Raquel. Und sehr begabt, auf seine Weise. Aber er hat sehr wenig, wovon er ausgehen kann.«
»Ja. Ich glaube, ich sollte Ihnen helfen, nicht wahr?«
»Es wäre schön.«
Sie fand eine Zigarette in ihrer Handtasche und zündete sie sich mit zitternden Händen an. Dann nahm sie einen tiefen Zug und ließ den Rauch langsam aus den Nasenlöchern steigen. »Was wollen Sie wissen?«
»Fangen wir mit dem altbekannten Klischee an: Hatte sie Feinde?«
»Darauf die Klischee-Antwort: Nein. Sie war beliebt, jeder hat sie gern gehabt. Außerdem: Wer auch immer ihr das angetan hat, es war kein Bekannter von ihr. Wir kannten keine solchen Unmenschen.« Ein Schauer lief über sie, als ihr bewußt wurde, wie leicht es auch ihr selbst hätte passieren können.
»Ist sie mit vielen Männern ausgegangen?«
»Immer wieder die gleichen Fragen.« Sie seufzte. »Sie hat sich mit ein paar Männern getroffen, bevor sie ihn kennenlernte.
Dann gab es nur noch den einen.«
»Wann hat sie begonnen, sich mit ihm zu treffen?«
»Als Patientin kam sie vor ungefähr einem Jahr zum erstenmal zu ihm. Ich kann nicht
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