Blackout
sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus. Ich setzte mich hinters Lenkrad und startete den Motor.
»Ich hab’ es mir anders überlegt«, sagte sie. »Ich lasse mich von Ihnen zum Lunch einladen.«
Sie saß mit geradezu peinlicher Präzision, schnitt ihr Steak in kleine Stückchen, spießte ein jedes einzeln auf und steckte es in den Mund, wischte sich auch nach jedem dritten Bissen die Lippen mit der Serviette ab. Ich hätte wetten wollen, daß sie, wenn nötig, hart um den Klasseerhalt kämpfte. »Sie war meine beste Freundin«, sagte sie, legte die Gabel weg und nahm das Wasserglas in die Hand. »Wir sind zusammen aufgewachsen, in Ost Los Angeles. Rafael und Andy- ihre Brüder - haben mit Miguel gespielt.« Als sie den toten Bruder erwähnte, umwölkten sich ihre Augen und wurden gleich danach hart wie Obsidian. Sie schob den Teller weg, hatte höchstens ein Viertel davon gegessen. »Als wir zum Echo Park umgezogen sind, kamen die Gutierrez’ auch mit. Die Jungen hatten immer alle möglichen Schwierigkeiten - kleinere Affären, die Streiche junger Burschen, Sie verstehen. Elena und ich dagegen waren stets brave Mädchen. Wirklich, sehr brav. Die Nonnen haben uns geliebt.« Sie lächelte. »Wir waren uns so nahe wie Schwestern. Und wie bei Schwestern gab es bei uns auch die üblichen Konkurrenzkämpfe. Sie hat immer hübscher ausgesehen als ich.« Sie las den Zweifel in meinem Gesicht.
»Wirklich. Ich war ein mageres Ding, hab’ mich erst spät entwickelt. Elena war - üppig, weich. Die Jungen waren hinter ihr her, daß ihnen die Zungen aus dem Hals hingen. Schon als sie elf oder zwölf war. Hier.« Sie langte in ihre Handtasche und nahm einen Schnappschuß heraus. Schon wieder photographische Erinnerungen.
»Das ist Elena, und das bin ich. Auf der High School.« Zwei Mädchen lehnten an einer mit Graffiti bedeckten Mauer. Sie trugen beide katholische Schulkleidung: kurzärmelige weiße Blusen, graue Röcke, weiße Söckchen und Schuhe aus gelbbraunem Leder. Die eine war klein, mager und dunkel, die andere einen Kopf größer, mit Kurven, die auch die Schuluniform nicht verbergen konnte, und einer Haut, die überraschend hell wirkte. »War sie denn blond?«
»Erstaunlich, nicht wahr? Wahrscheinlich irgendein Germane, der eine ihrer Vorfahren vergewaltigt hat. Später ist sie sogar noch heller geworden, war zuletzt wirklich das typische amerikanische Mädchen. Sie machte auf modern und intellektuell, nannte sich jetzt Elaine und gab viel Geld für ihre Kleidung und ihren Wagen aus.« Jetzt wurde ihr bewußt, daß sie ihre tote Freundin verleumdete, und sie änderte rasch Ton und Thema. »Aber sie war unter der etwas eitlen Oberfläche ein sehr tiefer, substanzieller Mensch. Und eine wirklich begabte Lehrerin. Solche wie sie gibt es nicht oft. Sie hat lernbehinderte Kinder unterrichtet.«
Die Klassen der lernbehinderten Kinder waren eingerichtet worden für Schüler, die keineswegs zurückgeblieben waren, aber dennoch Lernschwierigkeiten hatten. Das reichte von ungewöhnlich klugen Kindern mit ganz speziellen Wahrnehmungsproblemen bis zu den Kleinen, denen beim Lernen emotionelle Konflikte im Weg standen und die dadurch Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hatten. Die Arbeit mit lernbehinderten Kindern war hart. Sie konnte aus ständiger Frustration bestehen, aber auch aus einer stimulierenden Herausforderung, je nachdem, wie der Lehrer motiviert war, wie groß seine Energiereserven waren - und das Talent, über das er verfugte.
»Elena hatte wirklich eine Begabung, die Kinder aus der Reserve zu locken - gerade diejenigen unter ihnen, mit denen sonst keiner von den Lehrern umgehen konnte. Sie hatte Geduld. Wenn man sie ansah, hätte man das nicht gedacht. Sie war - auffallend. Hat immer viel Make-up benützt, hat sich so gekleidet, daß man alle ihre Vorzüge sehen konnte. Manchmal kam sie mir vor wie ein Partygirl. Aber sie hatte auch keine Scheu, sich mit den Kindern auf den Boden zu setzen und sich die Hände schmutzig zu machen. Es ist ihr gelungen, in ihre Köpfe einzudringen, und sie hat sich ihnen voll und ganz gewidmet. Die Kinder haben sie geliebt. Sehen Sie.« Wieder ein Photo. Elena Gutierrez, umgeben von einer Gruppe lächelnder Kinder. Sie kniete, und die Kinder kletterten auf ihr herum, zupften sie am Rocksaum, legten die Hände in ihren Schoß. Eine große, gut gebaute junge Frau, eher hübsch als schön, mit offenem, diesseitigem Blick, das blonde Haar modisch frisiert, ein dichter
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