BLACKOUT - Morgen ist es zu spät - Elsberg, M: BLACKOUT - Morgen ist es zu spät
übertönen.
Vincent Bollard antwortete nicht. In seinen Augen konnte sie die Angst lesen, nie wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen.
»Nach Paris sind es nur hundertdreißig Kilometer! Da müssen wir doch irgendwie hinkommen. Wenn der Strom wieder da ist, kann man wieder tanken, ein Taxi nehmen oder einen Wagen mieten. Ich zahle jeden Preis. Oder es fahren wieder Züge.«
Bollard wiegte zweifelnd den Kopf.
»In unserer Wohnung ist es auf jeden Fall angenehmer als hier!«, schrie sie. Wie selbstverständlich hatte sie »unsere« gesagt, merkte sie. Noch hatte sie sich nicht daran gewöhnt, dass Bertrand nicht mehr lebte. Sie ertrug den Gedanken nicht, allein zu sein.
»Celeste und du, ihr kommt selbstverständlich mit!«, rief sie Bollard zu. Sie zog ihn am Arm aus dem Getümmel, in die Schlafhalle, wo es vergleichsweise ruhig zuging.
Celeste Bollard saß auf ihrem Bett und bewachte die verbliebenen Habseligkeiten des Trios.
Doreuil schilderte ihren Beschluss: »Ihr wohnt bei uns – bei mir –, bis ihr wieder in euer Haus dürft.« Dann packte sie hastig ihre Sachen.
Schweigend sahen ihr die Bollards zu. Schließlich legte Celeste Bollard ihren Koffer auf das Feldbett und verstaute ihre Kleidung darin.
Berlin
»Wir haben den Zorn der Bürger selbst miterlebt«, erinnerte Rolf Viehinger aus dem Innenministerium. »Die Zahl der Plünderungen, Einbrüche, Diebstähle und noch schwererer Verbrechen ist nicht einmal ansatzweise erfasst und wird es wahrscheinlich nie. In mindestens zwanzig Gemeinden und Landkreisen wurden – wenn auch erst in den letzten drei Tagen – die gewählten Vertreter beziehungsweise die öffentlichen Behörden von Teilen der Bevölkerung aus ihren Funktionen gezwungen. Wie zu erwarten war, waren die Täter jedoch noch weniger in der Lage, für Ordnung oder Sicherheit zu sorgen, in manchen Fällen wird das auch gar nicht ihr Ziel gewesen sein. Uns liegen sogar Berichte von Selbstjustiz bis hin zu Lynchmorden vor. Verifizieren konnten wir diese allerdings noch nicht. Die offiziellen Sicherheitskräfte versuchen zurzeit in diesen Gebieten wieder ihre Funktionen einzunehmen. Im Allgemeinen scheint das relativ gut zu laufen. Manche der neuen Herren setzen sich aber auch noch zur Wehr. Kein Wunder, sie haben mit entsprechenden rechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Diesbezüglich steht die Justiz mittel- und langfristig vor einem Riesenproblem, für das wir eine Lösung finden müssen. Die Verfolgung aller Straftaten, die während des Ausfalls begangen wurden, würde unseren Justizapparat auf Jahre hinaus blockieren. Wir müssen hier also entweder massiv und sehr schnell Personal aufstocken, was ich allerdings für unrealistisch halte, oder einen anderen Weg finden, damit umzugehen.«
»Eine Generalamnestie für mindere Delikte, zum Beispiel«, warf der Justizminister ein. »Die müsste bald erlassen werden, damit die Bürger so schnell wie möglich wieder Rechtssicherheit besitzen. Denn«, fügte er mit erhobenem Zeigefinger hinzu, »das Gefühl der Sicherheit in allen Belangen wiederherzustellen ist das Gebot der Stunde. Entschuldigen Sie«, sagte er zu Viehinger und bedeutete ihm, seinen Vortrag fortzusetzen.
»Noch eine Weile beschäftigen wird uns das Einfangen der entflohenen Strafgefangenen«, fuhr Viehinger fort. »Erste Schätzungen reden von knapp zweitausend Delinquenten. Rund ein Viertel davon gilt als hochgefährlich. Dabei werden wir auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen sein. Die Kommunikation dazu erfordert allerdings höchste Sensibilität. Schließlich dürfen sich die Menschen nicht von Schwerverbrechern umzingelt wähnen, sollten aber auch nicht versuchen, auf eigene Faust vorzugehen.«
Er machte eine Pause, trank einen Schluck Wasser.
»Wird das so einfach?«, fragte der Außenminister. »Die Menschen haben sich daran gewöhnt, Eigeninitiative zu ergreifen. Werden sie sich Vorgaben öffentlicher Stellen beugen, wenn diese ihre Aufgabe nicht hundertfünfzigprozentig erfüllen können?«
»So viel Eigeninitiative war da nicht«, relativierte Viehinger. »Etwa ein Drittel der Bevölkerung saß zuletzt in Notquartieren, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden, achtzig Prozent gingen zu den Wasser- und Lebensmittelverteilstellen, verließen sich also auf die Organisation durch den Staat. Die meisten Menschen werden in den kommenden Wochen, Monaten, ja sogar Jahren, ausreichend damit beschäftigt sein, die Folgen der Katastrophe zu bewältigen. Denn dass die
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