Blätter treiben im Wind (German Edition)
eine Antwort dieses unbekannten, gefühlvollen Schreibers.
Er schwieg.
»Shawn?«
»Ich bin noch da. Haben Sie einen Stift zur Hand?«
Kapitel 5
Sie hatte einen Tage Urlaub genommen, um diesen ganz ihrer Tochter zu widmen. Den Vormittag hinweg schlenderten sie auf dem schön angelegten Campus der Harvard University und den Nachmittag verbrachten sie in Newport und besichtigten dort die Hammersmith Farm, wo 1953 Jacqueline Bouvier John F. Kennedy heiratete, zehn Jahre vor Dallas, Texas und Lee Harvey Oswald. Donna mochte J. F. K. und was er für ihr Land getan hatte. Sie hatte viele Bücher darüber gelesen, und natürlich, wenn sie schon in Boston wohnte, auch sein Geburtshaus in Brookline, in einer Seitenstraße der Harvard Street, der Beals Street 83, besucht.
Julia spürte, dass ihre Mutter so frei und unbelastet war wie schon lange nicht mehr. Das bewiesen die Tage im Gebiet des Grand Canyon, die letzten Tage und auch der heutige, von der Sonne bestimmte Tag. Alles schien hell über ihnen zu leuchten.
Auch am Abend spürte man noch die milden Temperaturen dieses Septembers. Die Blätter der Bäume nahmen Schritt für Schritt die Farben des Herbstes an und entfalteten ihre ganze Pracht. Ein wunderschöner Tag ging dem Ende entgegen.
Julia übernachtete bei ihrer Freundin Erica und sie gingen am nächsten Morgen gleich von dort aus in die Schule. Die nächste Stunde gehörte nur ihr und ...
Gestern, als sie Toms Adresse erhalten hatte, verging ihre Schicht im Copley Plaza, dem Bostoner Traditionshotel – in dem schon fast alle amerikanischen Präsidenten logierten – wie im Flug. Sie lächelte immerzu. Einigen Stammgästen, die sie über die Jahre besser kennen gelernt hatte, gab sie vor Freude über die erhaltene Adresse einen Kuss. Sie schenkten Donna ein Lächeln und konnten nichts weiter erwidern. Es war äußerst ungewöhnlich im Copley Plaza, dass einem eine Angestellte einfach einen Kuss gab. Aber die Stammgäste des Hauses kannten Donna Parrish und ihre ungewöhnlich liebenswerte Art. Sie war ein Stern, der nie aufhörte zu leuchten. Nur wegen ihr ließen sich manche Gäste auf der Etage einbuchen, auf der sie arbeitete. Einfach nur um ihr Auftreten und ihr Lächeln zu sehen, und ihre Aura zu spüren, die sie verströmte.
Ihre eigentliche Aufgabe bestand darin, die Zimmer des Hotels in Ordnung zu bringen, doch Donna machte aus allem was sie tat, mehr als andere. Nach anfänglichen Schwierigkeiten genoss sie mittlerweile sogar beim Hotelmanager ein hohes Ansehen. Eine besondere Tat rückte sie für alle im Copley Plaza in ein anderes Licht.
Vor einigen Monaten fielen gleich drei der fünf Stammköche für einige Tage wegen Krankheit aus, doch Donna bewies Mut und Einsatzwillen. Sie bot flugs ihre Hilfe an, die zwei verbliebenen Köche hatten nichts dagegen. Die Tage mit Donna als Köchin verliefen grandios. Sie konnte sowohl die Mitarbeiter in der Küche delegieren wie auch motivieren und die Ergebnisse ihrer Kochkunst zergingen auf der Zunge. Das Ergebnis der vier Tage, die keiner des Personals je vergessen wird: ab sofort gab es einen Tag in der Woche, in der Donna einen Koch ersetzen durfte. Ein Novum! Der Hotelmanager bewunderte sie, weil sie einfach allen Menschen ein Lächeln aufs Gesicht zaubern konnte. »Sie lasse ich nie wieder gehen, Miss Parrish«, sagte er wiederholt zu ihr, »Sie sind wahrlich ein außergewöhnlicher Mensch.«
Donna freute sich über die Anerkennung ihrer Arbeit für das Traditionshotel. Leider kam Julia in ihrem Leben zu Kurz, dachte sie. Nur wenige Tage im Jahr konnte sie sich voll ihrer Tochter widmen. Immer zwischen Tür und Angel mit ihrer Tochter zu reden, war sehr unbefriedigend. Der Aufenthalt am Havasu Creek oder auch der heutige Tag gehörten zu den Höhepunkten des Jahres.
Es war schon spät. Sie blickte über ihren Computermonitor hinweg auf das in der Nacht funkelnde Boston. Sie hatte das Zimmer verdunkelt, und neben dem Computer zwei große Duftkerzen aufgestellt. Die Flammen schlingerten wie ein kleines Boot auf stürmischer See. Das geöffnete Fenster, und der dadurch hereinwehende, angenehm kühle Wind war der Verursacher.
Sie nahm den Stift zur Hand und war nun bereit, ihren Brief zu schreiben.
An Tom.
Glaubst Du an die Fügungen des Schicksals?
Eine völlig Unbekannten schreibt Dir einen Brief, da würde ich misstrauisch werden, glaub‘ mir, aber ich bitte Dich, leg das Misstrauen zur Seite und lies die
Weitere Kostenlose Bücher