Blamage!
aufatmeten, weil sie diesmal davongekommen waren. 33
Am Ende des absolutistischen Zeitalters, als der Adel bereits die wachsende Macht des Bürgertums spürte, und erst recht im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, versuchte die Aristokratie, sich durch eine verfeinerte Ausdrucksweise und durch verfeinertes Benehmen, das man nur im standesgemäÃen Umgang erlernen könne, vom reichen Bürgertum abzusetzen. Das Savoir vivre sollte ein Geheimnis für Eingeweihte bleiben. Viele reiche Bürger waren hingegen im 19. Jahrhundert aufs ÃuÃerste bestrebt, die Etikette des Adels zu übernehmen. Echte Adlige und bürgerliche Kulturkritiker haben es damals als lächerlich empfunden, mit welchen Mitteln die Bürger den Adel zu kopieren versuchten, etwa die beliebte Strategie, ständig französische Wörter in die eigene Rede einzubauen, um vornehmer zu klingen. Es ist paradox: Während der Individualismus des bürgerlichen Zeitalters die strenge höfische Kultur mit ihren zahllosen Etiketten und Regeln abzulösen begann, während das neue Zeitalter im Zeichen eines tatkräftigen, unternehmerischen Individualismus den Bürger vom einengenden Ständesystem befreite, schufen sich die Befreiten neue Regelwerke des Benehmens oder übernahmen Teile der alten Adelsetikette. Die neue Freiheit machte unsicher. Sie brachte allzu viele Gelegenheiten zur Blamage, die man gern vermeiden wollte.
Triumph der Empfindsamkeit â Peinliches aus dem 19. Jahrhundert
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, auch als Folge der Französischen Revolution, machte das Schlagwort der Volksherrschaft in Europa Furore. Der Nationalismus verband sich mit einer Sehnsucht nach Mythen und Märchen, und man bemühte sich, die neue Ordnung durch Rückgriffe auf alte Traditionen, auf die Ãberlieferungen der Volkskultur zu legitimieren. Die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Gemeinschaft, das Vertrauen auf emotionale Verbundenheit führte zu einer neuen Wertschätzung der Gefühle. Schon in der Endphase des Ancien Régime , im ausgehenden 18. Jahrhundert, war eine Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung gewachsen. In Deutschland »Sturm und Drang« genannt, wendeten sich die Romantiker gegen höfische Autorität und formale Tradition und stellten stattdessen das persönliche Fühlen und Erleben in den Vordergrund. Man zelebrierte nun das Gefühl, die Innigkeit, die schwärmerische Wohlgewogenheit als treibende Kräfte des Privatlebens und der Freundschaft. Die Liebesheirat wurde zum bürgerlichen Ideal, aber auch befreundete Männer umarmten und küssten sich innig, schrieben sich sentimentale Briefe und schworen sich ewige Treue, so beispielsweise der Philosoph Johann C. Lavater im Brief, den er am 10. November 1772 an seinen Freund Johann Gottfried Herder richtete: »Izt Freund, kann ich nicht antworten â aber schreiben muss ich â und wollte lieber weinen â hinübergeisten â zerflieÃen â an deiner Brust liegen â¦Â« 34 . All dies war keineswegs peinlich, sondern spiegelte ein neues Lebensgefühl. Was in der aristokratischen Hofkultur nach französischem Vorbild noch undenkbar lächerlich gewesen wäre, kam in den folgenden Jahrzehnten in Theater, Literatur und Gesellschaft groà in Mode: Die exaltierte, ungebändigte und doch gefühls- und ausdrucksstarke Sprache des Sturm und Drang war voller Ausrufe, voller forcierter Kraftausdrücke und neigte zum derben Volkstümlichen. Die nun beginnende Epoche der Romantik sollte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts andauern und war als Abkehr von der kühlen Rationalität, als Kritik an den Wissenschaften und Abwendung vom klassizistischen Erbe angelegt. Stattdessen dominierte das Gefühlsleben die Kunst und das Gesellschaftsleben: Liebe, Sehnsucht, Fantasie, in negativer Form auch in Gestalt der Schwarzen Romantik, in der sich Schauergeschichten, mystische Verwirrungen, Okkultismus und Melancholie manifestierten.
Parallel zu dieser schwärmerischen Stimmung im Kultur- und Gesellschaftsleben veränderte jedoch ein knallharter rationaler Kapitalismus die Welt. Die Naturwissenschaften, vor allem Biologie und Medizin, erlebten einen starken Aufschwung. Trotz dieser Verwissenschaftlichung wurde der Körper, insbesondere der weibliche, im beginnenden bürgerlichen Zeitalter als Quelle der Peinlichkeit, wenn nicht gar als bedrohliche Terra incognita
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