Blankes Entsetzen
Jack aus dem Kindergarten zurück war, verbrachten seine Eltern die nächsten vierundzwanzig Stunden damit, jeden seiner wachen Momente – und auch viele seiner schlafenden – mit einem wachsenden Gefühl der Angst akribisch zu beobachten.
»Warum tut ihr das?«, fragte Edward einmal.
»Was, Schatz?«, fragte Lizzie.
»Jack so angucken«, sagte der Sechsjährige, der die dunklen Haare und Augen seiner Großmutter mütterlicherseits geerbt hatte.
»Das tun wir doch gar nicht, Liebling«, log seine Mutter.
»Wir sehen ihn deshalb so an«, sagte sein Vater mit der natürlichen Offenheit, die Kinder seiner Ansicht nach am liebsten hatten und die ihn, wie Lizzie zugeben musste, zu einem besonders talentierten Vater machte, »weil wir glauben, dass Jack vielleicht krank ist.«
»Wie eine Erkältung, meinst du?«, fragte Edward.
»So ähnlich«, antwortete Christopher, der keinen Grund sah, seinem älteren Sohn Angst zu machen, solange noch die Chance bestand, dass alles sich als harmlos erweisen könnte. Und dafür betete er inbrünstig.
»Okay«, sagte Edward und hatte schon das Interesse verloren.
Das war für lange Zeit das Letzte, das gut gelaufen war, erinnerte sich Lizzie. Denn ihre Beobachtungen – und anschließend eine ungewohnt ernste Anna Mellor in der Londoner Praxis – bestätigten, dass Jacks Oberschenkelmuskeln schwächer waren, als sie hätten sein dürfen, und dass er darüber 84
hinaus Schwächen im Bereich der Hüfte und der Schultern zeigte.
»Was meinst du?«, fragte Lizzie die Kinderärztin nach der Untersuchung, während Jack im Zimmer nebenan mit einer Arzthelferin spielte.
»Ich meine«, sagte Anna Mellor, »Jack sollte zu einem Spezialisten.«
»Warum?«, fragte Lizzie. »Was glaubst du denn, was mit ihm nicht stimmt?«
Christopher sah sie daraufhin mit einem Blick an, in dem so viel Mitleid und Verzweiflung lagen, dass sie das Gefühl hatte, das Blut würde ihr in den Adern gefrieren.
»Wir müssen abwarten, Liebling«, sagte er sanft.
Und Lizzie begriff, dass es Christopher – einem Mann, der gewohnt war, durch Haut und Knochen zu schneiden und seine Hände in das Blut anderer Menschen zu tauchen – in diesem Augenblick kein bisschen anders erging als ihr selbst.
Er klammerte sich mit aller Kraft an die Unwissenheit.
Die Zeit danach verschwamm zu einem Nebel – etliche Tage am Telefon in der Londoner Wohnung, die Bemühungen, Jack zu beschäftigen und zu beruhigen, endlose Arzt- und Krankenhaus-Wartezimmer mit veralteten Zeitschriften und voller Patienten und Angehörigen mit guten Manieren und
erbärmlichem Aussehen. Untersuchungszimmer und
Röntgenabteilungen und Labors, durch die der arme Jack, der sich niemals beklagte, geschoben und geschubst wurde und in denen er vor einer endlosen Aufeinanderfolge von Männern und Frauen in Anzügen und weißen Kitteln laufen, sich hinsetzen und wieder aufstehen musste – vorgeführt wurde, wie Lizzie es in ohnmächtiger Wut empfand. Sie gingen zu einem Kinder-Neurologen, einem Orthopädie-Chefarzt und einem Genetiker; man stellte Lizzie und Christopher zahllose Fragen und beantwortete die ihren; man präsentierte ihnen Dutzende von 85
Fakten, Statistiken und Ratschlägen.
Und irgendwann inmitten dieses Nebels kam die Diagnose, verkündet wie das Urteil, auf das Lizzie wartete, seit Christine Connor sie in ihr Büro gebeten hatte.
Duchenne Muskeldystrophie aufgrund eines fehlerhaftes Gens des X-Chromosoms. Dem weiblichen Chromosom.
Mit anderen Worten, seine Mutter hatte es ihm vererbt.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Lizzie viel später an diesem letzten, endlosen Tag-Nacht-Albtraum zu Hause in Marlow.
»Wie kann das sein? Es gibt doch in der Familie keine Vorgeschichte solcher Krankheiten, oder?«
Die Frage galt ihrer Mutter, die aus London gekommen war, um Gilly mit Edward und Sophie zu helfen.
»Nicht, soweit ich weiß«, sagte Angela, die sich nicht ganz zu Unrecht angegriffen fühlte.
Alle drei Kinder waren oben und schliefen – Jack aus purer Erschöpfung –, und Gilly war vor einer Weile in ihre Wohnung in Maidenhead gefahren. Die anderen Erwachsenen saßen erschöpft im Wohnzimmer vor dem Holzfeuer, das knisterte und glühte wie gewöhnlich, aber so gar nichts von der üblichen Wärme und Behaglichkeit auszustrahlen schien.
»Was ist mit deinem Bruder?«, fragte Lizzie.
Solange sie denken konnte, wusste sie schon, dass es einen Onkel namens James gegeben hatte, der sehr jung verstorben war. Angela hatte
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