Blankes Entsetzen
Antennenkabel vor dem Fernseher.
»Guck doch, wo du hinläufst, du Balg!«, schrie Tony sie aus seinem Sessel an.
»Tut mir Leid, Daddy.« Das kleine Mädchen wollte aufstehen, doch einer ihrer Schuhe hatte sich unter dem Kabel verheddert, und als sie versuchte, sich zu befreien, zog sie zu fest, und das Antennenkabel flog aus der Dose.
»Verflixt!« Tony sprang auf. »Kannst du denn gar nichts richtig machen?«
»Tut Rina Leid!«, schrie das Kind vor Angst.
124
»Lass mich das machen«, brüllte ihr Vater sie an.
Irina sah ihn näher kommen und versuchte noch einmal panisch, ihren Fuß aus dem Kabel zu befreien, wobei es sich zur Seite schlängelte. Der Metallstecker am Ende sauste durch die Luft und schlug gegen den Fernsehbildschirm.
»Ich sagte, lass es!«, brüllte Tony.
Joanne hörte ihn von oben, erstarrte und öffnete die Badezimmertür.
»Tony?«, rief sie.
Und hörte die Schreie ihrer Tochter.
In der Notaufnahme wusste sie mit schrecklicher Gewissheit, dass die Fragen dieses Mal genauer gestellt würden, als die Dame an der Anmeldung, die Krankenschwester und später der Arzt und die Röntgenassistentin Irina und sie selbst ganz anders anschauten: forschend, misstrauisch.
»Sie ist über ein Kabel gestolpert und hat sich am Tisch und an der Wand gestoßen.«
Und ihr Vater hat sie in die Rippen getreten.
»Rina ist hingefallen.«
Die Tarngeschichte, die ihr armes, verängstigtes kleines Mädchen treu unterstützte.
Lieber Gott, mach, dass es ihr gut geht.
»Ihr Fuß ist stecken geblieben.«
Und wenn ihr auch dieses Mal nichts passiert ist, dann finde ich einen Weg, den Mistkerl aufzuhalten.
»Es ist meine Schuld, Doktor. Ich wollte das Kabel längst schon richtig befestigen.«
Wenn sie mir glauben, dann finde ich einen Weg, das schwöre ich!
»Wir warten nur noch auf die Röntgenbilder, Mrs Patston.«
125
Bitte, lieber Gott.
An diesem Abend hätte sie Irina beinahe nicht wieder nach Hause gebracht. Beinahe hätte sie den glücklichen Augenblick genutzt, als die Ärzte ihrem Kind Entwarnung gaben, um mit ihm zu fliehen. Beinahe wäre sie mit Irina in die Nacht gefahren, um nie mehr zurückzukehren. Beinahe hätte sie das Auto auf die Straße zur M25 gelenkt – jede Autobahn wäre Joanne in dieser Nacht recht gewesen, solange sie nur wegführte von dem Mann, der seine Tochter trat und sagte, er könne nicht anders.
Beinahe.
Gott hatte sie erhört, aber Joanne war nicht sicher, ob Er ihr damit einen so großen Gefallen getan hatte. Ganz und gar nicht sicher, ob Er Irina damit sehr geholfen hatte.
Freier Wille, Joanne.
Es war nicht Gottes Aufgabe.
Es ist deine.
Deiner Tochter zu helfen.
Doch sie fuhr nicht auf die Autobahn. Es hatte keinen Sinn.
Nicht ohne genügend Bargeld und einen Ort, an den sie gehen konnte. Sie hatte eine Kreditkarte und eine Geldkarte, doch Tony kontrollierte beide und würde die Karten sofort sperren lassen. Selbst wenn sie jetzt zu einem Geldautomaten ging und die größtmögliche Summe abhob – wie lange würde das Geld reichen?
Sie lenkte den Fiesta an den Straßenrand und hielt, um ihre Handtasche zu durchwühlen.
»Mami?«
Irinas schläfrige Stimme vom Rücksitz.
»Ist schon gut, Schätzchen. Schlaf weiter.«
Sie hatte ihre Karten zu Hause gelassen.
126
Kein Bargeld. Keine Autobahn.
Nach Hause.
Sie begann Traumbilder zu entwerfen. Von einer Flucht. Von sicheren Orten, an denen sie sich mit Irina verstecken konnte …
weit entfernte Orte, wo Tony sie niemals finden würde. Sie sorgte dafür, dass Irina jede einzelne Minute des Tages an ihrer Seite blieb, selbst wenn sie auf die Toilette ging, selbst wenn Tony nicht da war, falls er plötzlich ohne Vorwarnung zurückkäme.
»Kann ich vorbeikommen?«, fragte Sandra sie eines Morgens am Telefon.
»Wir sind gerade auf dem Sprung.«
»Vielleicht können wir uns irgendwo treffen?«
»Wir machen nur ein paar Einkäufe.«
»Ich kann ja kommen, wenn ihr zurück seid.« Sandra hielt inne. »Da ich weiß, dass du sie nicht zu mir bringst … auch wenn ich nicht die leiseste Ahnung habe, warum.«
»Ich bringe sie dir bald vorbei, Mom.«
»Du tust mir damit weh, Joanne, und ich verstehe es einfach nicht.«
»Es gibt nichts zu verstehen. Ich hatte in letzter Zeit nur viel um die Ohren.«
»Natürlich«, sagte Sandra kühl.
»Ich hab dich lieb, Mom.«
»Ich habe dich auch lieb«, sagte ihre Mutter. »Und ich habe auch meine Enkelin lieb.«
»Ich weiß.«
Joanne wusste auch, dass sie ihrer
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