Blankes Entsetzen
recht gewesen, solange sie nur wegführte von dem Mann, der seine Tochter trat und sagte, er könne nicht anders.
Beinahe.
Gott hatte sie erhört, aber Joanne war nicht sicher, ob Er ihr damit einen so großen Gefallen getan hatte. Ganz und gar nicht sicher, ob Er Irina damit sehr geholfen hatte.
Freier Wille, Joanne.
Es war nicht Gottes Aufgabe.
Es ist deine.
Deiner Tochter zu helfen.
Doch sie fuhr nicht auf die Autobahn. Es hatte keinen Sinn. Nicht ohne genügend Bargeld und einen Ort, an den sie gehen konnte. Sie hatte eine Kreditkarte und eine Geldkarte, doch Tony kontrollierte beide und würde die Karten sofort sperren lassen. Selbst wenn sie jetzt zu einem Geldautomaten ging und die größtmögliche Summe abhob – wie lange würde das Geld reichen?
Sie lenkte den Fiesta an den Straßenrand und hielt, um ihre Handtasche zu durchwühlen.
»Mami?«
Irinas schläfrige Stimme vom Rücksitz.
»Ist schon gut, Schätzchen. Schlaf weiter.«
Sie hatte ihre Karten zu Hause gelassen.
Kein Bargeld. Keine Autobahn.
Nach Hause.
Sie begann Traumbilder zu entwerfen. Von einer Flucht. Von sicheren Orten, an denen sie sich mit Irina verstecken konnte … weit entfernte Orte, wo Tony sie niemals finden würde. Sie sorgte dafür, dass Irina jede einzelne Minute des Tages an ihrer Seite blieb, selbst wenn sie auf die Toilette ging, selbst wenn Tony nicht da war, falls er plötzlich ohne Vorwarnung zurückkäme.
»Kann ich vorbeikommen?«, fragte Sandra sie eines Morgens am Telefon.
»Wir sind gerade auf dem Sprung.«
»Vielleicht können wir uns irgendwo treffen?«
»Wir machen nur ein paar Einkäufe.«
»Ich kann ja kommen, wenn ihr zurück seid.« Sandra hielt inne. »Da ich weiß, dass du sie nicht zu mir bringst … auch wenn ich nicht die leiseste Ahnung habe, warum.«
»Ich bringe sie dir bald vorbei, Mom.«
»Du tust mir damit weh, Joanne, und ich verstehe es einfach nicht.«
»Es gibt nichts zu verstehen. Ich hatte in letzter Zeit nur viel um die Ohren.«
»Natürlich«, sagte Sandra kühl.
»Ich hab dich lieb, Mom.«
»Ich habe dich auch lieb«, sagte ihre Mutter. »Und ich habe auch meine Enkelin lieb.«
»Ich weiß.«
Joanne wusste auch, dass sie ihrer Mutter wehtat, doch sie konnte nichts dagegen tun. Sie hatte zu viel Angst, dass Sandra Irina irgendwann die Wahrheit aus der Nase ziehen würde. Dieses Risiko konnte sie nicht eingehen. Sie riskierte schon genug, indem sie bei Tony blieb , und sie war nicht sicher, ob sie noch mehr Anspannung ertragen konnte. Eines Tages, wenn sie einen Weg aus dem Albtraum gefunden hatte, würde sie ihrer Mutter alles erklären müssen.
Keine Traumbilder mehr , sagte sie sich. Tu etwas.
Sie fuhr mit Irina in die South-Chingford-Bibliothek in der Hall Lane, setzte sie mit einem Buch an einen Fenstertisch, behielt sie im Auge und versuchte mit Hilfe der Broschüren, die in der Bibliothek auslagen, herauszubekommen, welchen Schutz und welche Zufluchtsorte es für Menschen wie sie gab. Von einer Telefonzelle zwei Straßen weiter rief sie die Nummer eines 24-Stunden-Krisentelefons an und sprach mit einer sehr netten ruhigen Frau, während Irina sich an ihre Beine schmiegte. Aber noch während die Frau am anderen Ende der Leitung ihr von Hilfsangeboten, sicheren Plätzen, richterlichen Verfügungen und Prozesskostenhilfe erzählte, wusste sie schon, dass dies alles für sie und Irina nicht geeignet war. Denn unter dem Strich war sie schließlich eine Kriminelle, weil sie ihr kleines Mädchen illegal ins Land gebracht hatte; sie hatte ihrem Mann dabei geholfen – hatte Beihilfe geleistet –, ihre Tochter zu kaufen.
Aber das war eine Lappalie. Tausend Mal schlimmer war es, wenn sie daneben stand, sobald er Irina schlug.
Wenn er sie trat.
Es gab keine Zuflucht für sie. Alles reine Fantasie.
Hoffnungslos.
19.
»Man gewöhnt sich nie daran, oder?«, bemerkte Maureen Donnelly zu ihrer Freundin Clare Novak; sie saßen beim Mittagessen in einem kleinen griechischen Restaurant in einer kleinen Seitenstraße der Charlotte Street.
»Ich habe es nie geschafft.« Clare tunkte ein kleines Stück Pitta in die Taramasalata, betrachtete es und legte es wieder zurück.
»Tut mir Leid«, sagte Maureen. »Ich hätte nicht darüber sprechen sollen.«
»Doch«, erwiderte Clare. »Es beschäftigt dich. Es ist besser, wenn du es dir von der Seele redest.«
»Du hast Recht, es beschäftigt mich wirklich.« Maureen trank einen Schluck Retsina. »Der Fall geht mir verdammt
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