Blankes Entsetzen
seines Vaters. Sogar sein Lächeln war fast dasselbe. Und Jack lächelte sehr häufig, trotz seiner Krankheit.
Dabei war sein Leiden nichts im Vergleich zu dem, was ihn mit ziemlicher Sicherheit noch erwartete. Jack hatte bereits Beinschienen und Krücken ertragen und wieder ausrangieren müssen; in absehbarer Zeit würde er auch nicht mehr in der Lage sein, seinen manuellen Rollstuhl zu bewegen, und einen elektrischen bekommen. Jack wusste darüber Bescheid, riss sogar Scherze über das Thema.
Er wusste noch ganz andere Dinge – viel mehr, als seinen Eltern recht war, die ihn gern so lange wie möglich beschützt hätten. Jack hatte die Informationen über seinen Computer erhalten – auf die gleiche Weise, wie Lizzie ihr eigenes Wissen ergänzt hatte. Fakten und Details, die ihr Albträume verursachten, die sie nicht nur im Schlaf, sondern auch tagsüber peinigten und quälten.
Sie fragte sich manchmal, was gewesen wäre, wenn ihre Großeltern mütterlicherseits nicht beschlossen hätten, das Geheimnis der Krankheit gemeinsam mit Angelas Bruder zu begraben – wenn sie in dem Wissen um die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung aufgewachsen und darauf untersucht worden wäre. Gäbe es dann vielleicht keinen Edward und keine Sophie, die Gott sei Dank beide gesund und kräftig waren?
Keinen Jack?
Wäre das denn besser gewesen? Diese Frage stellten sich Lizzie, Christopher und Angela immer wieder, so sinnlos und quälend sie auch war.
Für mich wäre es nicht besser, lautete Lizzies Antwort jedes Mal – zwar voller Schuldgefühle, aber unumstößlich. Denn wie könnte sie auch anders antworten, da sie ihren geliebten Sohn kannte? Die Krankheit war nicht Jack. Die Krankheit war ein fremder Eindringling, ein Feind, der Jack das Dystrophin raubte, ein lebenswichtiges Muskelprotein.
Seine Glieder mochten schwächer werden, aber es war dem Feind bisher noch nicht gelungen, seinen Willen zu besiegen, und er hatte seine Intelligenz und seinen Humor bewahrt. Und das sonnige Lächeln, das ihn so untrennbar mit den Herzen seiner Familie verband.
Dennoch … die Dinge, die ihm bevorstanden. Operationen, Therapien. Schmerzen und lähmende Müdigkeit. Hilflosigkeit und Enttäuschungen, die kein gesunder Mensch erahnen konnte. Furcht vor der Notwendigkeit einer Wirbelsäulen-Operation. Angst vor dem Kampf um jeden Atemzug, vor einem Luftröhrenschnitt, vor den Schläuchen und den Pflegern, die die Schläuche absaugen und wässern, die ihn füttern und waschen mussten.
»Noch ist es nicht so weit«, erinnerte Christopher Lizzie des Öfteren. »Nicht jetzt. Sieh dir unseren Jungen jetzt an.« Und dann nahm er ihre Hand, drückte sie sanft und brachte sie dazu, Jack zuzuschauen. Und wenn sie sah, wie er mit Edward spielte, wie er Sophies Haar streichelte, was er sehr gerne tat, wie er Harry Potter las oder sich ein Video ansah, eine CD hörte oder seine Hausaufgaben machte, erkannte sie, dass Christopher Recht hatte.
Noch ist es nicht so weit.
Bitte, Gott, lass es niemals so weit sein.
»Du benimmst dich ein bisschen seltsam«, sagte Jack jetzt. Jack Wade, dem man nichts vormachen konnte.
Also reiß dich zusammen, Lizzie Piper.
»Ich habe ein bisschen Kopfschmerzen«, log sie. »Nichts Ernstes.«
»Bist du sicher?«
»Absolut«, sagte sie und widmete sich wieder ihren Würstchen im Schlafrock.
»Jede Menge Bisto, bitte«, sagte Jack.
»Aber selbstverständlich, Herr Gourmet.« Lizzie lächelte und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Findest du es ehrlich gut, dass wir diesen Sommer alle wegfahren, Jack?«
»Natürlich.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Das wird super.« Er zögerte. »Warst du deshalb so komisch, Mom? Weil du dir Sorgen um mich und die Reise gemacht hast?«
Lizzie klammerte sich an die Ausrede. »Ich glaub schon«, sagte sie. »Ein bisschen.«
»Kein Grund zur Sorge, Mom«, sagte Jack. »Nicht, wenn Dad sich um alles kümmert.«
Sie lächelte ihn an und wandte sich wieder dem Abendessen zu, während sie gleichzeitig versuchte, sich zu erinnern, wann »Mami« dem erwachseneren »Mom« gewichen war.
»Natürlich nicht«, sagte sie.
18.
Während ihres ständigen Kampfes, Irina zu beschützen, überdachte Joanne immer wieder ihre Möglichkeiten. Sie fragte sich, ob sie etwas übersehen hatte, um die eigene Zukunft und die ihres Kindes zu retten. Eine Scheidung war unmöglich. Tony hatte ihr deutlich gesagt, dass er sie beide niemals gehen ließe, worauf Joanne einzuwenden versuchte,
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