Blankes Entsetzen
dass es bestimmt die einfachste Lösung für ihn wäre: Ruhe und Frieden ohne Frau und Tochter.
»Klingt verlockend«, sagte Tony. »Aber nicht verlockend genug bei alldem, was ich im Laufe der Jahre für euch berappt habe.«
»Wir sind doch keine Geldanlage«, mahnte Joanne.
»Ja, leider«, konterte er. »Denn wenn ihr es wärt, könnte ich euch jetzt einlösen und mir was Sinnvolles dafür kaufen.«
Joanne hatte es dabei belassen. Sie ließ das Thema jedes Mal rasch fallen, weil sie wusste, dass jeder Vorwurf, jede Andeutung einer Trennung, die Gefahr weiterer Schläge barg, und sein Zorn richtete sich immer noch ausschließlich gegen Irina – nach wie vor bestrafte er Joanne, indem er das kleine Mädchen bestrafte.
»Geht es Irina gut?«, hatte ihre Mutter erst eine Woche zuvor gefragt.
»Sehr gut«, antwortete Joanne, während ihr Magen sich zusammenzog. Sie fürchtete sich inzwischen, Irina irgendwo mit hinzunehmen und mied selbst den kürzesten Besuch bei ihrer Oma.
Natürlich ging es Irina alles andere als gut. Das Mädchen schien vor Joannes zunehmend angsterfüllten Augen immer mehr zu verblassen. Wie ein nicht lackiertes Gemälde, das anfangs strahlend und farbenfroh gewesen war und im Laufe der Zeit immer fahler wurde.
»Merkst du denn nicht, was du da tust?«, fragte Joanne Tony ein oder zwei Tage vor dem Besuch bei ihrer Mutter. »Was du nicht nur ihr antust, sondern auch dir selbst?«
Es war Morgen, Frühstückszeit, die sicherste Zeit des Tages, um eine Herausforderung zu wagen – die am wenigsten betrunkene Zeit.
»Natürlich merke ich das«, antwortete Tony rundhe-raus.
Joanne starrte ihn an, unsicher, ob sie richtig gehört hatte.
»Glaubst du, ich weiß nicht, dass ich ein Monstrum bin?«
Sie sah ihn an. »Wenn das so ist … warum ?«
»Ich kann nicht anders«, sagte er, stand auf und ging zur Arbeit.
Zwei Samstage später war Joanne noch oben im Bad, während Tony Autorennen auf Channel Four schaute. Irina, die sich in einer Ecke leise eines ihrer Bibliotheks-Bilderbücher angeschaut hatte, stand auf, um sich ihr Lieblings-Stofftier zu holen, einen lila und weißen Hund, den sie zuvor auf den Boden hatte fallen lassen. Dabei stolperte sie über das lange Antennenkabel vor dem Fernseher.
»Guck doch, wo du hinläufst, du Balg!«, schrie Tony sie aus seinem Sessel an.
»Tut mir Leid, Daddy.« Das kleine Mädchen wollte aufstehen, doch einer ihrer Schuhe hatte sich unter dem Kabel verheddert, und als sie versuchte, sich zu befreien, zog sie zu fest, und das Antennenkabel flog aus der Dose.
»Verflixt!« Tony sprang auf. »Kannst du denn gar nichts richtig machen?«
»Tut Rina Leid !«, schrie das Kind vor Angst.
»Lass mich das machen«, brüllte ihr Vater sie an.
Irina sah ihn näher kommen und versuchte noch einmal panisch, ihren Fuß aus dem Kabel zu befreien, wobei es sich zur Seite schlängelte. Der Metallstecker am Ende sauste durch die Luft und schlug gegen den Fernsehbildschirm.
»Ich sagte, lass es!«, brüllte Tony.
Joanne hörte ihn von oben, erstarrte und öffnete die Badezimmertür.
»Tony?«, rief sie.
Und hörte die Schreie ihrer Tochter.
In der Notaufnahme wusste sie mit schrecklicher Gewissheit, dass die Fragen dieses Mal genauer gestellt würden, als die Dame an der Anmeldung, die Krankenschwester und später der Arzt und die Röntgenassistentin Irina und sie selbst ganz anders anschauten: forschend, misstrauisch.
»Sie ist über ein Kabel gestolpert und hat sich am Tisch und an der Wand gestoßen.«
Und ihr Vater hat sie in die Rippen getreten.
»Rina ist hingefallen.«
Die Tarngeschichte, die ihr armes, verängstigtes kleines Mädchen treu unterstützte.
Lieber Gott, mach, dass es ihr gut geht.
»Ihr Fuß ist stecken geblieben.«
Und wenn ihr auch dieses Mal nichts passiert ist, dann finde ich einen Weg, den Mistkerl aufzuhalten.
»Es ist meine Schuld, Doktor. Ich wollte das Kabel längst schon richtig befestigen.«
Wenn sie mir glauben, dann finde ich einen Weg, das schwöre ich!
»Wir warten nur noch auf die Röntgenbilder, Mrs Patston.«
Bitte, lieber Gott.
An diesem Abend hätte sie Irina beinahe nicht wieder nach Hause gebracht. Beinahe hätte sie den glücklichen Augenblick genutzt, als die Ärzte ihrem Kind Entwarnung gaben, um mit ihm zu fliehen. Beinahe wäre sie mit Irina in die Nacht gefahren, um nie mehr zurückzukehren. Beinahe hätte sie das Auto auf die Straße zur M25 gelenkt – jede Autobahn wäre Joanne in dieser Nacht
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