Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Anpfiff saß Günther Pflicker neben Johannes auf der Bank. Günther, der Sohn des Metzgers, war eine Klasse über ihm und übertraf Johannes in der Breite um das Zweifache. Was Johannes zu wenig hatte, hatte Günther zu viel. Günther Pflicker war für sein Alter schon immer zu schwer gewesen, was auch Johannes Gerlitzen Jahr für Jahr in seinem Patientenjournal vermerkt hatte, doch nicht weil der Bub so dick war, sondern aufgrund der Muskeln und schwerer Knochen. Sogar von seiner Unterlippe hatte er zu viel, als würde ein unsichtbares Gewicht daran hängen, strebte sie gen Boden. Günther Pflicker saß auf der Bank, weil er Hindernisse nicht umdribbelte oder ihnen kreativ auswich, sondern sie niedermähte. Offiziell meinte Peter Parseier, Günther säße aus Rücksicht auf die gegnerische Mannschaft auf der Bank, aber der eigentliche Grund war, dass sich Günther nicht an die Regeln hielt. Parseier wäre es egal gewesen, ob Günther den St. Michaeler Kindern die Beine brach, aber dass er nicht stehen blieb, wenn der Schiedsrichter bereits abgepfiffen hatte, war für ihn als Trainer blamabel. Günther, dem der Trainingsanzug an allen Ecken und Enden am Körper spannte, und Johannes, der in seinem Trainingsanzug verloren aussah, gaben ein seltsames Paar ab. Johannes jedoch beachtete den hünenhaften Bub kaum, sondern fragte sich, wo der Trainer all die Bezeichnungen für den Schiedsrichter hernahm. Johannes hatte gar nicht gedacht, dass sein Trainer über solch ein großes Vokabular verfügte, und so fand er es fast ein bisschen schade, dass er meistens so leise sprach, dass man ihn kaum hörte.
»Sieht ma eh, für wen da dreiadzwanzgste Mann heut spült.« – »Schiri, wos soll des?« – »Der is jo mehr Pfeifn, ois wos er sei Pfeifn benutzt.« – »Outwachler, hast Augenkrebs?« – »Unparteiischer, wos is mit du?«
Je weiter die Minutenuhr voranschritt, desto roter wurde Parseier im Gesicht. Seine Züge spannten sich wie Drahtseile, und in regelmäßigen Abständen schmetterte er sein Klemmbrett auf den Boden, bis es an der Kante in der Erde stecken blieb. Bald waren auch die zuschauenden Eltern außer Rand und Band. Noch vor der Halbzeit lag St. Peter 1 : 4 zurück, und Mütter wie Väter waren aufgesprungen, um ihren Kindern Worte an die Köpfe zu werfen, die man nicht zu Kindern sagen sollte. Um den Druck auf die Kinder zu mindern, hatte der Allgemeine Fußballverband eigentlich die Wertungen für Mannschaften unter 14 Jahren verboten, doch den St. Petrianern wie den St. Michaelern war das egal. Hier ging es nicht um Fußball, sondern um die Dorfehre. Die Spielereltern sprangen auf und ab, schlugen ihre Hände zusammen, legten die Handflächen zur Schallverstärkung an den Mund, grölten sich die Seele aus den Leibern und wollten sich nicht mehr beruhigen.
Die Atmosphäre unterschied sich kaum von jener eines Boxkampfes, dadurch genährt, dass der Jugendtrainer von St. Michael Vorarbeit geleistet hatte. Er hatte seinen Neffen zu allen Spielen der St. Petrianer Jugendmannschaft der letzten Monate geschickt, um herauszufinden, wie es sein konnte, dass dieser Bergbauernverein , wie er ihn nannte, solch eine Siegesserie haben konnte. Allzu lange hatte der Neffe nicht tüfteln müssen, St. Peters größte Stärke war leicht zu erkennen. Ein Meter fünfzig groß, strohblonde freche Igelhaare, zehn Jahre alt und der Sohn eines ehemaligen Nationalteamspielers: Peppi Gippel. Der Vater Sepp Gippel, der sich nach Karriereende mit großzügigen Geschenken des St.-Petri-Gemeinderates zu einer Fußballerpension in St. Peter hatte überreden lassen, war im Angertal wohlbekannt. Sepp Gippel hatte St. Peter innert zweier Saisonen zwei Spielklassen nach oben geführt, obwohl er bereits Ende dreißig gewesen war und sein Wohlstandsbauch von seiner Liebe für die Küche des St.-Petri-Wirtes zeugte, wo er vertragsgemäß dreimal täglich warm verköstigt wurde. Aber dass dieser Sepp Gippel einen Sohn hatte, war den St. Michaelern neu. Der Neffe hatte berichtet, wie der kleine Peppi Gippel fünf Gegenspieler hintereinander ausdribbeln, ein Gurkerl nach dem anderen schieben und traumhafte Freistöße im Kreuzeck versenken konnte, während der ganze Fußballplatz munkelte:
»Der wird amoi nu vül bessa ois wia da Vata.«
Gegen solch ein Talent konnte der St. Michaeler Jugendtrainer nur eine Taktik fahren: Er ließ Peppi Gippel von fünf Spielern gleichzeitig decken. Wie eine Traube
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