Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
loszufahren. Um sich daran zu gewöhnen, die Handbremse auf der linken Seite zu haben und mit Automatik zu fahren, beschloss er, erst im Wirtschaftshof ein paar Runden zu drehen, bevor er sich auf die Straße wagte. Hätte er geahnt, dass die St. Peterianer ungeduldig auf ihn warteten, wäre er statt der vierzig Runden nur fünf oder sechs gefahren. Doch so ließ er sich das Vergnügen nicht entgehen, über den Schotter und zwischen den großen Linden hindurchzudüsen und das Bremsen mit der Handbremse aus voller Fahrt zu trainieren.
Währenddessen stand die Pfarrersköchin Grete mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter auf der Kirchenstiege und blickte die Talstraße hinab. Sie hielt einen Rosenkranz in ihren Händen, vom Erdäpfelwasser so rau wie die unpolierten Holzperlen. Ihre Arme drückten den Wollstoff der olivfarbenen Strickjacke eng an das geblümte Kleid, als fröre sie im Sonnenschein des vorösterlichen Frühlingstages. Rund um Grete standen in kleinen Gruppen zusammengescharrt die Mitglieder der Mütterrunde. Die Männer waren des Wartens überdrüssig geworden und hatten sich im Kollektiv ins Wirtshaus begeben.
»I hab dem Subprior gestern am Telefon nu g’sagt, dass’s voi wichtig is, dass da Ersatzpfarrer vor 15 : 00 Uhr da is.«
Grete sprach diesen Satz zum wiederholten Male, die Frauen rundherum beschwichtigten sie, alle wussten, dass es nicht Gretes Schuld war, dass der eigene Pfarrer krank war und der Ersatzpfarrer zu spät kam. Doch Grete war den Tränen nahe. Die gute Frau stand seit knapp dreißig Jahren im Dienst von Pfarrer Cochlea. Sie war ihm durch das ganze Land gefolgt, um ihn zu bekochen, seine Chorhemden zu waschen, Messgewänder zu bügeln, Kelche zu polieren und Bibeln zu kleben. All die Aufregung nun war für ihr Pfarrersköchinnenherz ein wenig zu viel. Auch der Messdiener Egmont war sichtlich nervös. Geschäftig wuselte er durch die Gegend, sein Gesicht missmutiger denn je.
Es war Mittwoch vor der Osterwoche. Auf dem Parkplatz der Pfarrkirche stand ein eierschalfarbener Bus aus den 60ern, die Fensterscheiben so verrußt, dass man weder hinein- noch hinausschauen konnte. Rundherum liefen die vier Dutzend St.-Petri-Kinder unter zwölf Jahren, sprangen auf und ab, spielten mit Bällen, lieferten sich Wasserpistolenschlachten, und einige der älteren Buben ärgerten den Busfahrer damit, dass sie das Fahrzeug an den Achsen zum Wackeln brachten. Jedes Jahr schickten die St. Petrianer ihren Nachwuchs vor den Kartagen für eine Woche auf Jungscharlager, um sich auf die Osterzeit zu besinnen. Organisiert wurde dieser Auszug der Jugend traditionell von den unverheirateten, kinderlosen Frauen des Dorfes unter fünfundzwanzig Jahren, die dies als große Ehre empfanden und sich zur Vorbereitung Freundschaftsbänder knüpften, die teilweise so dick waren, dass sie als Tragegurte für ihre Westerngitarren verwendet werden konnten. Die Kinder freuten sich auf ihren Ausflug, auf das Schlafen in Zelten, Wandern in der Natur, Basteln, Spielen und Singen christlicher Lagerfeuerlieder. Die Jüngeren waren so aufgeregt vor der Abfahrt, dass sie wild kreischten. Je länger sich ihre Abreise verzögerte, desto lauter wurden sie und desto öfter sahen die Mütter auf die Uhr. Waren die Kinder fort, begann für die Mütter von St. Peter der Urlaub. Da die Jungschar eine katholische Organisation in der direkten Tradition der Emmausjünger war, mussten Bus und Kinder aber noch vor der Abfahrt gesegnet werden. Zehn Minuten nach der geplanten Abfahrt um 15 : 00 Uhr erstieg Egmont schließlich den Kirchturm und blinzelte durch die Turmzinnen die Talstraße hinab, die Hand am Züngel der seit fünfzig Jahren nicht mehr benutzten Feuerglocke, um sie zu läuten, sobald er ein Lenker Kennzeichen entdeckte.
Johannes A. Irrwein war noch nie im Jungscharlager gewesen. Als Johannes Gerlitzen noch lebte, hatte dieser stets verhindert, dass der Kleine mitfuhr, hatte Allergien, Krankheiten, Keime etc. als Grund vorgeschützt. Letztes Jahr hatte die Lagerfahrt drei Wochen nach Johannes Gerlitzens Begräbnis stattgefunden, Ilse hatte das als zu früh empfunden, ihn mitzuschicken, aber nun war der Tod des Großvaters über ein Jahr her. Ilse war in Übereinstimmung mit dem Rest der Mütterrunde der Meinung, man müsse in die Zukunft blicken. Johannes war in der vierten und somit letzten Klasse der Volksschule. Im Herbst stand der Schulwechsel bevor. Ilse und Alois hatten das
Weitere Kostenlose Bücher