Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Familienkonto konsultiert; nachdem sie letzten Sommer die Heizung erneuert hatten, war nicht genügend Geld für ein Internat vorhanden, und das einzige Gymnasium im Tal war das katholische Privatgymnasium der Benediktiner, wo das Schulgeld mehr betrug als ein Monatseinkommen der Kindergärtnerin Ilse Irrwein. Gymnasien waren auch 2002 in den Alpen dünn gesäte Institutionen. Die meisten Gymnasien waren, wie das Lenker Gymnasium, an Klöster angeschlossene, katholische Privatschulen. In Ilses Jugend waren diese Schulen großteils Knabenschulen gewesen, doch seit der Jahrtausendwende wurden sie vermehrt koedukativ geführt. Öffentliche Gymnasien gab es nur in Städten, die zu weit entfernt waren, um jeden Tag zu pendeln.
»Neinneinneinnein!«, schrie Johannes und klammerte sich am Stiegengeländer fest, »ich will nicht in das blöde Lager, ich will aufs Gymnasium!«
Es war zehn nach drei, und seit Stunden versuchte Ilse Irrwein, ihren Sohn aus der Haustür zu bekommen. Sie hatte ihm schon vor anderthalb Monaten eröffnet, ihn mit den anderen Kindern ins Jungscharlager schicken zu wollen, aber Johannes hatte bis heute Morgen, als sie in sein Zimmer gekommen war und seine Tasche gepackt hatte, nicht wahrhaben wollen, dass seine Mutter es tatsächlich ernst meinte. Ganz St. Peter war es vollkommen unverständlich, wieso der Bub eine Schule besuchen wollte, in der man Latein lernen musste – das seltsamste und unnützeste Fach, das man sich im Dorf vorstellen konnte. Die Mütterrunde hatte diesen eigentümlichen Wunsch darauf zurückgeführt, dass Johannes keine Freunde hatte. Selbst wenn er mal auf eine Geburtstagsfeier eingeladen gewesen war, hatte er Bauchschmerzen simuliert oder bis zum Erbrechen geweint. Heute wollte ihm Ilse das Weinen nicht durchgehen lassen. Das Jungscharlager bot die perfekte Möglichkeit, Freunde zu finden und Anschluss an die Kinder seines Alters zu bekommen. In der Schule versteckte er sich hinter seinen Heften und Büchern, rechnete Fleißaufgaben oder schrieb meterweise Übungsaufsätze. Im Jungscharlager hingegen gab es keine Tische, geschweige denn Bücher, jedoch viel frische Luft, Ballspiele und Gemeinschaftsaktivitäten. Die Mütterrunde hatte beteuert, dass Johannes dort Freunde finden, die anderen Kinder lieb gewinnen und sich nach dieser Woche riesig freuen würde, in die Hauptschule in Lenk im Angertal zu gehen, jene vierjährige Unterstufenschule, die alle St.-Petri-Kinder besuchten, bevor sie ein Jahr das Polytechnikum und schließlich eine Berufslehre absolvierten. Fünfzehn Minuten nach drei an diesem Abfahrtstag wurde Ilse nervös. Der Bus war zwar noch nicht vorbeigefahren, aber Johannes klammerte sich wie ein Affe ans Stiegengeländer.
»Ich fahr nicht mit!«
Ilses Haar war aus der großen Metallspange gerutscht. Sie zog an den Beinen ihres Sohnes, und ihre Wangen waren vor Zorn und Anstrengung gerötet.
»Du foahrst!«
Sie versuchte, Johannes’ Finger mit Gewalt vom Geländer zu lösen. Kaum hatte sie seine Finger von einer Sprosse gelöst und seinen Bauch umfasst, um ihn ins Auto zu tragen, wo bereits die gepackte Tasche mit Schlafsack und Isomatte auf ihn wartete, griff er nach dem nächsten Treppenpfeiler. Vier Stufen hatte sie schon geschafft, sieben lagen noch vor ihr. Nervös schielte sie immer wieder auf die Küchenuhr, die mit etwas Verrenkung in ihrem Blickfeld lag. Jeden Moment könnte der Bus abfahren. Ilse liebte ihr Kind. Sie wollte sein Bestes und war sich sicher, Latein wäre das nicht. Was sollte er denn in den Alpen mit Lateinkenntnissen anstellen? Pfarrer werden? Ilse Irrwein wünschte sich, nachdem sie selbst nur ein Kind bekommen hatte, später viele Enkelkinder. Doch, wenn Johannes überhaupt nie mit anderen Menschen umgehen lernte, wie sollte er dann je eine Frau finden? Ilse raffte all ihre mütterliche Strenge zusammen, ließ Johannes’ Beine los, stemmte ihre Hände in die Hüfte und sagte in ernstem, kühlen Ton, unterbrochen von Schnaufern der Anstrengung:
»Johannes i schwör’s da, wenn du net mit ins Jungscharlaga foahrst, verbrenn i olle deine Bücher!«
Ilse streckte ihren Rücken durch, Johannes war so erschrocken, dass es ihm die Tränen verschlug. Still starrte er seiner Mutter in die Augen, pure Verzweiflung glänzte zwischen seinen hellblonden Wimpern. Ilse wandte sich ab und steckte ihre Haare fest.
»Zieh deine Schuch an.«
Sie griff nach dem Autoschlüssel und rief sich die Worte der Mütterrunde und aller anderen
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