Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Neuerscheinungen im Schaufenster sahen. Besonders die Gegenwartsliteratur war ihnen verhasst, da sie meinten, dort würde nur sinnentleerte Befindlichkeit und Bauchnabelschau betrieben, aber keine großen Themen abgehandelt wie in der antiken Literatur. Ihr Wahlspruch, der in einem goldenen Bilderrahmen groß an der Wand ihres Klubraumes hing, war ein Zitat des berühmten Altphilologen Guilelmus Monacensis: Latein kann man, Griechisch liebt man . Sie liebten ihr Griechisch-Studium sogar so sehr, dass sie sich einige Male versehentlich in ihrem Klubraum einschlossen, weil sie nicht daran dachten, ihn rechtzeitig zu verlassen, bevor um zweiundzwanzig Uhr die automatische Türverriegelung die zentralen Ausgänge in jedem Trakt verschloss. Um Haltung zu bewahren, schliefen sie natürlich im Sitzen und mit umgebundener Krawatte, woraufhin sie allerdings die folgenden Tage steife Nacken hatten und das Studium etwas langsamer angingen. Mobilfunk, Fernsehen und Internet lehnten sie als Vehikel der Volksverdummung ab, und so hatte keiner von ihnen ein Handy dabeigehabt, um Hilfe zu rufen.
Aus der Liebe zur Welt der alten Griechen resultierte auch der Name, den sie sich gegeben hatten: Digamma-Klub. Das Digamma war ein altgriechischer Halbvokal, ein konsonantisches U, das dem englischen W ähnelte, aber noch vor der Erfindung der Schrift aus der Sprache geschwunden war. Dass viele Wörter früher ein Digamma enthalten hatten, hatte jedoch große Auswirkungen auf die Formenbildung des überlieferten Altgriechisch gehabt, was Mauritz, Severin, Ferdinand und Albert über die Maßen faszinierte. Sie nahmen sich zum Ziel, bei jedem altgriechischen Wort zu wissen, ob es einst ein Digamma enthalten und ob das Digamma Auswirkungen auf die ihnen bekannte Form des Wortes gehabt hatte. Dieser Buchstabe, der nicht mehr sichtbar war, aber doch Konsequenzen hatte, war für sie das Ideal ihrer geistigen Beschäftigung. Ihr Ziel war es, hinter die Materie zu gehen, die Welt hinter dem Sichtbaren zu verstehen und mehr als das Offensichtliche zu wissen. Wenngleich diese Kleingesellschaft einigen Lehrern suspekt war, war sie bei den Mönchen sehr beliebt. Mitzi Ammermann hatte eine Zeit lang gehofft, beim Belauschen ihrer Gespräche etwas Skandalöses zu erfahren. Das war jedoch ähnlich ergiebig gewesen wie das Durchsuchen der Nachtkästchen der Mönche, und so hatte sie bald das Interesse verloren. Mitzi Ammermann interessierte sich nicht für Homer, Thukydides oder Sophokles und fand es auch in keiner Weise spannend zu überlegen, wie in den Werken dieser alten Griechen der Lauf aller zukünftigen geschichtlichen Ereignisse vorausgesehen, angedeutet und bereits verschriftlicht worden war. So ließ man den Knaben freie Bahn, Pater Jeremias erinnerte sie gelegentlich an die nahende Apokalypse, und erst Pater Tobias suchte sie eines Tages in ihren Räumlichkeiten auf, um ihnen einen jüngeren Schüler als Schützling ans Herz zu legen, von dem er glaubte, dass er hervorragend in den Digamma-Klub passen würde.
Johannes A. Irrwein wusste nicht, was Pater Tobias plante, als dieser ihn zu Beginn der vierten Klasse in der Mittagspause aus dem Chemieraum holte und ihn bat, ihn zu begleiten. Pater Tobias führte Johannes aus dem Schulhof in einen abgeschlossenen Durchgang, für den sonst nur der Subprior den Schlüssel hatte, und weiter in den Gästetrakt. Im Nordflügel hatten die Mönche früher ihre noblen Besucher untergebracht, die auf der Reise durch die Alpen in Klöstern wohnten, da es keine Gasthäuser für einen reisenden Hofstaat von mehr als fünfzig Personen gab. Den Schülern waren diese Gänge nicht zugänglich, da sie bereits seit einigen Jahren für Konferenzen, Besprechungen und Treffen genutzt oder vermietet wurden. Schweigsam schritt Johannes neben dem Mönch durch die Gänge. Die Fenster waren mit schweren Stoffen verhangen, auf dem polierten Marmor quietschte ein jeder Schritt seiner Gummisohlen, doch da weit und breit niemand in Sicht war, machte er sich darüber keine Gedanken. Pater Tobias hob die Augenbrauen, bog in einen kleinen Seitengang, der durch eine Gittertür vom Hauptgang getrennt war, und klopfte dort viermal an eine schwere Holztür, wartete drei Sekunden und klopfte abermals. Drinnen hörte man das Rücken von Stühlen auf den Steinfliesen, bevor sich die Tür öffnete. Sie schwang langsam auf, und obwohl Johannes keine Ahnung hatte, was auf ihn zukam, klopfte sein Herz. Der Digamma-Klub legte nicht nur viel
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