Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
Wert auf ausgezeichnete Leistung, sondern auch auf einen angemessenen Auftritt, und so standen seine Mitglieder im Halbkreis, der Größe nach aufgereiht, als sich die Tür wie von allein öffnete. In den alten Gemäuern gab es keine einzige gerade Wand, weswegen man der Tür nur einen Stups geben musste, um sie aufschwingen zu lassen, aber für Johannes sah es in diesem Moment aus, als wäre Zauberei im Spiel.
Die Schüler hatten sich ihren Klubraum , wie sie den ehemaligen Abstellraum für Konferenzstühle zu nennen pflegten, mit ausrangierten Möbeln aus dem Baumberg’schen Jagdschlösschen eingerichtet. Der Tisch war wurmstichig, in der Récamiere an der Wand war keine Feder mehr an ihrem Platz, aber es ging ihnen nicht um Bequemlichkeit, sondern um das richtige Ambiente für die Bildung des Geistes.
»Na dann komm herein, Johannes A. Irrwein. Wir haben schon auf dich gewartet«, sagte Severin Dietrich, der als Größter am Türende des Halbkreises stand. Er streckte seinen Arm einladend aus und wies auf einen der fünf Stühle an der schweren Tafel. Johannes wusste nicht, wie ihm geschah, was er hier sollte und was es mit dieser Situation auf sich hatte. Noch nie zuvor war er so freundlich eingeladen worden, noch nie hatte jemand auf ihn gewartet. Und natürlich war ihm der Digamma-Klub nicht unbekannt. Seit kurz nach dessen Gründung beobachtete er die Mitglieder auf dem Schulflur oder im Hof, lauschte beim Vorbeigehen, wie sie sich unterhielten. Sie waren ihm aufgefallen, da sie nie mit den anderen Burschen ihres Alters Fußball spielten, den Mädchen hinterherliefen oder sich um Karikaturzeichnungen der Lehrer scharten. Genau wie Johannes standen sie immer abseits, abgesondert von den Mitschülern – nur dass sie zu viert waren, während Johannes allein war. Johannes zögerte nicht einen Moment, den Raum zu betreten.
Im Winter der vierten Klasse am Gymnasium fühlte sich Johannes von Kopf bis Fuß an der Schule angekommen. Kurz nachdem der erste Schnee gefallen war und Lenk wie ein pittoreskes Schneekugelstädtchen aussehen ließ, bekam Johannes einen kleinen Digamma-Anstecker verliehen, den er sich von nun an wie die anderen ans Revers seiner Schuluniform heften durfte. Dies bedeutete ihm viel, da der erste Schnee jedes Jahr eine Herausforderung für ihn darstellte. In Lenk waren die barocken Häuschen lediglich von einer Puderzuckerschicht bedeckt, doch in St. Peter am Anger lag der Schnee kniehoch, und Johannes musste den Gemeindearbeiter Schuarl Trogkofel anbetteln, die Straße ins Tal rechtzeitig zu räumen, damit er in die Schule kommen konnte. Trotzdem kam er jeden Morgen zu spät, da der Bus mit Schneeketten an den Rädern nur im Schneckentempo vorwärtskam. Er haderte in diesen Tagen noch mehr als gewöhnlich damit, aus den Bergen zu kommen, doch der Digamma-Klub beruhigte ihn.
»Es ist egal, woher du kommst. Es zählt nur, was du aus dir machst«, sagte Albert zu ihm, als er eines Morgens berechnete, wie viel es kosten würde, seine Eltern wegen unterlassener Hilfeleistung zu verklagen, nachdem er wegen einer Schneewechte die ersten beiden Schulstunden verpasst hatte, die noch dazu eine Doppelstunde Griechisch gewesen waren.
Nach drei Monaten im Digamma-Klub hatte Johannes den Naturwissenschaften bereits abgeschworen. Ferdinand, Mauritz, Severin und Albert waren drei Jahre älter als er, und er konnte mit ihren Unterhaltungen kaum Schritt halten, doch er durfte Protokoll über ihre Ergebnisse, Vorhaben und Fragestellungen führen, um einen lang gehegten Wunsch des Digamma-Klubs zu verwirklichen: einen Kommentar zur Gegenwart der Klosterschule zu verfassen. Johannes verfasste Traktate über die Unästhetizität der aus den Schuluniformsröckchen herausblitzenden Stringtangas und schrieb eine Liste von Gründen, warum es wichtig war, sich in jungen Jahren nicht von Mädchen ablenken zu lassen, wenn man später Forscher werden wollte. Er kommentierte neue Entwicklungen, wie die Einführung des Freifaches Mediation, Schüler helfen Schülern , das der Digamma-Klub einstimmig als affig klassifizierte, und vor allem wurde mindestens einmal in der Woche darauf hingewiesen, wie wichtig die Kenntnis der altgriechischen Sprache, Literatur und Kultur für die Bildung des Menschen sei. Johannes hätte auch den Boden gefegt, wenn sie ihn gebeten hätten, denn er war überglücklich, endlich dazuzugehören und seinen Platz gefunden zu haben. Von nun an zählte nur noch die Meinung des Digamma-Klubs, und
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