Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam: Roman (German Edition)
auf der linken Seite. Auf seinen Knien lag ein neues Schulheft, dessen Duft nach chlorfrei gebleichtem Papier er genoss. Ab und zu vermerkte er einzelne Sätze des Subpriors auf den karierten Seiten, doch es kostete ihn Mühe, sich auf dessen Rede zu konzentrieren, da er den Digamma-Klub im Auge behalten wollte. Mauritz, Albert, Severin und Ferdinand saßen ebenso wie Johannes in den Reihen ihrer Klasse, genauso wenig um die Klassenkameraden bemüht wie der junge Protokollant. Über die Sommermonate hatte er einen plötzlichen Wachstumsschub erlebt, sodass er, der frühere Klassenkleinste, nun sechs seiner zehn männlichen Kameraden überragte. Anders als vor wenigen Monaten musste er sich nicht mehr strecken und verrenken, um während einer Versammlung den Digamma-Klub zu beobachten. Ein kurzer Blick über die Schulter genügte, um seine Freunde vier Reihen weiter hinten zu entdecken – was ihn jedoch verwirrte, war, dass sie fortwährend die Köpfe zusammensteckten und sich zu beraten schienen. Der Digamma-Klub hatte Disziplin und Aufmerksamkeit gegenüber Autoritätspersonen in seinen Statuten festgeschrieben, doch etwas schien die vier zu beunruhigen, so unaufmerksam hatte Johannes sie noch nie gesehen. Nachdem der Subprior die üblichen organisatorischen Bemerkungen zum Jahr verlesen hatte, machten sich die Schüler aufbruchsbereit, um in ihre Klassen zu laufen und über die Ferien zu tratschen, da steuerte Gernot Luftinger, der Obmann des Trägervereins, zielsicher auf das Rednerpult zu.
Gernot Luftinger, der sich von Gesinnungsgenossen »Geri« rufen ließ, war ein stockkonservativer Mann, der sich große Mühe gab, juvenil zu wirken. Seine traditionsbewussten Luxus-Lodensakkos trug er zu Jeans, die so schief an ihm saßen, als wären sie angewidert, einen Mann zu bekleiden, dessen Auffassung vom Leben allem entgegengesetzt war, was eine Jeans repräsentierte. Seine Haare waren so fest an den Hinterkopf gegelt, dass sich nicht einmal bei einem Tornado etwas geregt hätte, und auf seiner Nase trug er eine knallrote modische Brille. Skeptisch abwartend und irritiert von seinem Auftritt hörten ihm die Schüler des Lenker Stiftsgymnasiums zu, wie er von großen Veränderungen sprach und dem Trägerverein, der sich als nährende, schützende Mutter junger wertorientierter Schüler versteht . Er redete fast doppelt so lang wie der Subprior, holte aus und erzählte von der Zeit, die im Wandel ist , und neuer Wirtschaftslage, an die man die Schule anpassen muß. Seine Rede schloss er mit den Worten:
»Sehr geehrte Schüler, wie ihr wisst, ist mein Name Gernot Luftinger, und das Motto, das ich in diese Schule mitbringe, lautet: Luftig modernisieren!«
Als er zu sprechen aufhörte, applaudierten einige Schüler zögerlich, doch Johannes war sich sicher, aus Severins Richtung ein Brechgeräusch vernommen zu haben.
Er sprang auf und eilte auf seine Freunde zu, aber Ferdinand harschte ihn an:
»Kein Wort, bis wir im Klubraum sind. In der Mittagspause, bis dahin unauffälliges Verhalten.«
Johannes platzte vor Irritation und Neugierde. Er war so verwirrt, dass er nicht einmal mitbekam, wie ihn drei Klassenkameraden nach seinen Ferien fragten und ihm sogar zwei Mitschülerinnen ein Kompliment machten, er sehe sehr gut aus, seit er so gewachsen sei. Alina Naumann, die ähnlich strebsam wie Johannes war und ihn schon immer sympathisch gefunden, sich aber bislang von ihm ferngehalten hatte, weil er kleiner gewesen war als sie, war schrecklich gekränkt, als er auf ihr Kompliment nicht reagierte, das sie ihm nämlich nicht nur aus Höflichkeit, sondern aus ernstem Interesse gemacht hatte – was sie einiges an Überwindung gekostet hatte.
»Das sind keine guten Vorzeichen«, sagte Mauritz bei der Versammlung in der Mittagspause und schritt unruhig im Raum auf und ab. Nur Johannes hatte sich gesetzt, Albert lehnte an der Wand, Ferdinand stand, die Finger in den Gürtelschlaufen seiner Hose eingehängt, neben dem Bücherregal, und Severin hüpfte wie geladen vom einen Fuß auf den anderen. Johannes hatte sie noch nie so erlebt und fragte gespannt, was denn los sei.
»Dieser Luftinger, was er gesagt hat, war nicht gut.« Albert sprach mit gedämpfter Stimme, als fürchtete er, belauscht zu werden.
»Aber er hat doch gar nichts gesagt, das war doch nur so Standardblabla«, entgegnete Johannes, der am liebsten wieder zur Tagesordnung übergegangen wäre. Es war kein gutes Omen, dass sie sich heute noch gar nicht über die
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