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Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gsella
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können! »Rotfront: Hu.«
    Wie bekannt, vermochten dann weder die Gewehrattrappen noch nächtliche Agitprop-Turniere noch überhaupt der KBW noch lang zu überleben, und auch Hubert war, zur Zeit seines Aufbruchs zur Isla de Gomera, längst alternde Pauschalkraft im Lokalfunk Herne 2. Aber linke Melancholie, ein wenn auch ironisierter Kämpferhabitus, beides womöglich gewürzt mit einem hinübergeretteten Schüsschen voluntaristischen Starrsinns: All das ließ ihn an seinem Grußwort über all die dummen Jahre hinweg festhalten: »Rotfront: Hu.«
    Doch schon auf seiner zweiten Nachricht, einem ersten Brief, suchte und suche ich seinen Erkennungsgruß vergebens:
    Lieber Freund, begann es überraschend wärmlich, ich komme langsam zu mir. Vier Wochen Gomera, das ist, wie soll ich sagen: ein endloses, warmes, reinigendes Bad? Ja, so fühle ich es. Zeit und Raum und Ich, die Grundkategorien abendländischer Gewalt über innere und äußere Natur, beginnen obsolet zu werden. Ich lasse mich treiben. Doch wer ist dieses Ich? Stunden und Tage sitzt dieses Ich am Strand, durchstreift den unermesslichen Regenwald der Hochebene, taucht ein in das sympoetische Ganze, wird Teil der Gerüche, der Farben, der Wolken, Pflanzen und Tiere. (Hört sich komisch an, nicht wahr? Lache nicht. Es ist so.)
    An diesem Punkt verging mir in der Tat das Lachen und wurde mir leicht schummerig. Es kam noch dicker:
    Kennst du, lieber Freund, Kum Ye? Noch weiß ich nicht einmal, wie es korrekt geschrieben wird, es ist eine tibetanische Variante der Morgenmeditation. Ann McDuffy (eine der drei Irinnen, mit denen ich seit einiger Zeit zusammenlebe, wir lernten uns beim Sonnenuntergang in Marias Café kennen) übt jeden Tag mit mir. Es sind Körperübungen, die Verspannungen und Ichfixierungen lösen, das fernöstliche Urbild der Bioenergetik. Man summt dabei. Mhhhmmm, mhhmmmm… Shan Ti Pada, so nennt sich die zweite Irin, will mich bald in die Atemmeditation einführen. Sie ist schon richtiges Ordensmitglied. Ja, Ordensmitglied, du hast recht gehört. Und glaube mir: Die »Freunde des europäischen buddhistischen Ordens« sind alles andere als ihre christlichen Karikaturen. Viel freier. Sie wissen, dass es so viele Wege zur Tugend gibt wie Menschen. Schade ist nur, dass ich Katherine Stone (die Dritte im Bunde) so geschockt habe. Denke dir: Völlig achtlos habe ich drei Ameisen, die unseren Käse entdeckt hatten, in den Spülsteinabfluss gespült; noch bin ich von meinen humanzentrierten Unbedachtheiten eben nicht weg. Shan ruft, der Tee sei fertig. Lasse mich schließen mit Versen eines Dichters, den ich hier neuentdecke: Rainer Maria Rilke. Er schrieb:
    Gesicht, mein Gesicht:
    Wessen bist du? für was für Dinge
    bist du Gesicht?
    Ich hoffe, es geht dir gut, dein Hubert
    Sehr gut ging es mir nach Lektüre dieses Briefes nicht; eher schon war mir speiübel. Hubert im Schneidersitz vor Teebeuteln und einem Buch des sensibelsten aller Kryptofaschisten? Und warum trank er nicht wie gewohnt Bier? Floss es auf der Insel nicht? Oder hatte Hubert es längst unter »humanzentrierte Unbedachtheit« abgebucht und exiliert? Auch diese Käseanekdote dünkte mich befremdlich, und einige Tage lang sann ich in der Tat darüber nach, ob ameisengefüllte Goudahäppchen zur Haute Cuisine irischer Buddhistenzirkel zählen mochten, »fromage aux fourmis« sozusagen, aber Huberts nächster Brief belehrte mich eines Schlimmeren:
    Lieber Thomas, während ich zu neuen, zu meinen Ufern finde, möchte ich dir eine Frage stellen (und habe ein wenig Angst vor der Antwort): HAT DEIN LEBEN SINN? Oder hältst du dich noch immer mit Zynismen und Sarkasmen über jenem Ozean alles Seienden, in den einzutauchen dir das abendländische Individuationsprinzip verwehrt?
    Ah bäh?
    Erinnere dich an jene Ameisen, denen unser Käse einen willkommenen, einen nahrhaften Haltepunkt bot. Ich gelobe: Es waren die letzten Wesen, welche wissentlich von mir getötet wurden. Denn die Worte »Töten ohne Not ist Mord«: Gelten sie nicht für alles bewusst Seiende? Der Panther, will er leben, muss töten. Aber der Mensch? Ich? Du? Schau dir ein Kaninchen an! Ein Huhn. Ein Schwein. Aber nicht von oben herab, nicht als Jäger, sondern als sein Mitwesen. Versenke dich in es: wie es da ist, wie es lebt und nichts als leben will. Nicht nur einmal übrigens: Westliche Idiosynkrasie gegen die Idee der Reinkarnation ist herrschaftliche Verabsolutierung, ängstliche Hypostasierung der Einzelexistenz zur

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