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Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I

Titel: Blau unter Schwarzen - Gesammelte Prosa I Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Gsella
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da ich meinem Briefkasten folgenden Brief entnahm:
    Tag Tommy , las ich, und schon stieg leise Hoffnung auf, der Freund habe sich halbwegs wieder gefangen; aber denkste: Es ist doch furchtbar schade, dass die drei, meine drei Irinnen, Gomera verlassen haben. Natürlich wünsche ich ihnen von Herzen jene sprachlose meditative Erleuchtung, jene mahasanghika , die sie hier vergeblich suchten und auf El Hierro ganz gewisslich finden werden. Doch mir … mein Freund! Mir ist die Seele immer noch wie herausgerissen. Ein schlimmes Erlebnis schließlich ließ mich in die Berge fliehen. Es war vor sechs Tagen. Ich saß, erstmals seit Wochen wieder, neben einem Menschen – einem jungen französischen Mädchen. Während eines wunderschönen Sonnenuntergangs (wie viel Anthrozentrismusliegt in diesem Wort!) kamen wir ins Gespräch. Stunden saßen wir im Café, plaudernd und lachend. Dann ging uns Hunger an. Und nun stelle dir meine Freude vor, als ich Nicole einen Gemüsetopf bestellen sah! Möhren, Bohnen, Kartoffeln, Tomaten und Zucchini. Der erste Mensch unter tausend Barbaren – so dachte ich. Bis sie, Nicole (das Essen war längst vorüber), in ihren Rucksack griff und eine Tüte »Weingummis« herausholte. Kaninchen, Pinguine, Fische, Tauben, Schweine, Krokodile: All diese Wesen stopfte sich das Ungetüm ins Maul, kaute drauf herum, schluckte sie hinunter … Ich musste mich augenblicklich übergeben, dann stand ich auf und rannte zum Strand, rannte kilometerweit, erklomm eine Anhöhe und rannte weiter, immer weiter, nur weg von diesem Geschöpf und all den anderen Geschöpfen, die tagtäglich und massenhaft reuelos morden. Seit einer Woche lebe ich jetzt hier oben, am Gipfel des Garajonay, in einer kleinen Höhle des Regenwalds, nicht wissend, ob ich sie je verlassen werde. Ich ernähre mich von Walderdbeeren und Regenwasser. Bitte sag Mutti Bescheid. Dein Hubert
    Diese Zeilen lesen und eine Träne weinen war eins. Der Freund, ich musste den Tatsachen ins Auge sehen, war durchgetickt. Hubert S. hatte nicht mehr alle im Oberstübchen. Mit Verwunderung erst, dann wachsendem Argwohn hatte ich seine Verwandlung registriert, jetzt war ich nur noch sauer auf diese drei Nordlichter, die ihn, meinen Hubert, zu einem »Freund des europäischen buddhistischen Ordens« gemacht und ihn auf einen Weg geführt hatten, der philosophische Hinterfragung des Fleischkonsums offenbar nur streifte, um in klinisch manifester Weingummiphobie zu sich selbst zu kommen … Aber nun eins nach dem anderen.
    Vor mir liegt Huberts erste Karte. Sie erreichte mich knapp zwei Wochen nach seinem Abflug und dürfte, schätze ich die postalischen Verhältnisse der Insel richtig ein, in den ersten Tagen seines dortigen Aufenthalts geschrieben sein. Nach allem, was geschah, werde ich diese Karte hüten wie einen Schatz, zeigt sie doch einen durch und durch gesunden Hubert:
    Beste Grüße von der schönsten Insel des Welt! Wein & Zigaretten billig, lecker Fisch frisch aus dem Meer, nur das Kneipenangebot recht dörflich: außer einer klitzekleinen »El Mago«-Bar (immerhin Musik und Pfeifchen gut) ziemlich Fehlanzeige. Aber der Rest ist himmlisch. Also sei nicht kreuzdumm, und komm nach. Oy e banado en el mare azul! Bring Merkels Skalp mit. Rotfront: Hu.
    So möchte, nein, so werde ich ihn in Erinnerung behalten: »Rotfront: Hu.« Im Kommunistischen Bund Westdeutschland haben wir uns kennengelernt, während einer dieser Bauernagitationen, wenn ich mich nicht irre. Es war halt recht bewegt und abenteuerlich damals, Ende der siebziger Jahre. Ich sah Hubert zum ersten Mal, als wir, ein entschlossenes Dutzend Maoisten, wieder mal durch die Ruhr schwammen: in voller Montur und natürlich mitten in der Nacht. Jeder von uns war beladen mit drei Dosen Schweinefleisch und einer hölzernen Gewehrattrappe. In Essen-Steele stiegen wir in die Fluten, in Überruhr, zwanzig Meter weiter, verließen wir sie schnatternd und klingelten beim erstbesten Agrarproletarier, um ihn für den Klassenkampf zu gewinnen, zu begeistern.
    Gewiss, wir trollten uns, als unser Ansprechbauer sich als schäferhundbewehrter Kleinangestellter mit faschistoidem Aggressionspotential entpuppte und mit der Polizei drohte für den Fall, dass wir ihn und seine Frau nicht »auf der Stelle weiterpennen!« ließen, aber gerade Hubert hat mir damals imponiert. Wie behände er sich auf das Dach des Kottens schwang, um etwaige Bewegungen der Reaktion bereits im Frühstadium erkennen und melden zu

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