Blau wie Schokolade
Kopf, als mir Drogen zu besorgen. Mit achtzehn zog ich aus, sechs Monate vor meinem Abschluss. Anfangs hatte mein Vater mir wegen der Drogen Hausarrest gegeben, dann hatte er mir Vorträge gehalten und mich schließlich angebettelt, damit aufzuhören. Meine Brüder waren auch nur mit mir beschäftigt. Aber ich hörte auf niemanden. Ich konnte gar nicht hören. Ich war bis zu den Ohren voll mit Drogen. Das Letzte, was mein Vater zu mir sagte, bevor ich mich für immer davonschlich, war: ›Ich werde dich immer liebhaben, Becky-Maus‹ – so nannte er mich –, ›ich werde dich immer liebhaben, Becky-Maus.‹«
Sie umschlang ihre dünnen Beine noch fester. »Ob sie mich wohl immer noch lieben? Morgen hat meine Mutter Geburtstag.«
Auch ich hatte Sehnsucht nach meiner Mutter, genau wie Becky.
Aber nur eine von uns beiden konnte etwas daran ändern.
Ich dachte an Ally, wie sehr sie mir jeden Tag fehlte. Obwohl ich nicht einen Tag mit ihr außerhalb meines Körpers verbracht hatte, wusste ich, dass ich sie für alle Zeit lieben würde, mich immer nach ihr sehnen würde. So würde es Beckys Mutter bestimmt auch ergehen, dachte ich. Mit Sicherheit wartete sie auf einen Anruf von ihrer Tochter, besonders an ihrem Geburtstag.
»Morgen früh, Becky, werden wir in aller Herrgottsfrühe bei deiner Mutter anrufen und ihr alles Gute zum Geburtstag wünschen.«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Das kann ich nicht. Ich bin ein totales Wrack.«
Ich dachte darüber nach. »Du warst ein totales Wrack. Du hast es ganz groß verbockt, Becky. Das steht fest. Du hast den Drogen die Herrschaft über dein Leben überlassen und dabei fast deine Seele verloren. Aber jetzt bist du seit einem Jahr clean. Du kannst deine Familie zurückhaben, Becky, nur die Drogen nicht mehr. Wenn du noch einmal damit anfängst, bist du tot, das weißt du.«
Becky nickte. »Ich weiß. Das weiß ich.«
»Also morgen früh?«
Um sieben Uhr am nächsten Morgen klopfte Becky an meine Tür. Ich war im Bademantel, hatte geduscht und schminkte mich für die Arbeit.
Sie klappte ihr Handy auf. Zusammen setzten wir uns aufs Bett, die Köpfe gegen das Kopfende gelehnt. Ich breitete die Decke über uns aus.
»Meine Mutter steht immer um fünf Uhr morgens auf. Sie ist auf einem Bauernhof groß geworden.«
»Ruf sie an, Becky, bitte! Bevor du noch länger drüber nachdenkst, ruf sie einfach an! Du wirst clean bleiben und kannst wieder eine gute Tochter sein. Das hat sie verdient.«
»Meinst du wirklich?«
»Ja, meine ich. Ruf sie an, Becky! Du bleibst clean. Du weißt, dass du das kannst.« Ich legte den Arm um sie. »Ruf deine Mama an.«
Sie nickte. Mit zitternden Händen wählte sie die Nummer. Ich hörte, dass sich eine Frauenstimme meldete. Becky legte auf.
Ich stöhnte, schlug mit dem Kopfkissen nach ihr, entwand ihr das Handy und drückte auf die Wahlwiederholung. Dann reichte ich ihr das Telefon zurück. »Regel Nummer eins«, sagte ich, »leg niemals, nie im Leben einfach so auf bei deiner Mutter!«
Große Tränen traten in Beckys Augen.
Die Mutter am anderen Ende meldete sich mit: »Hallo?«
»Mama?«, sagte Becky mit zaghafter Stimme. »Mama, hier ist Becky. Ich wollte nur … ähm … Mama, ich wollte dir nur alles Gute zum Geburtstag wünschen.«
Die Frauenstimme zitterte wie die von Becky, aber sie war so erleichtert, dass man die Freude in jeder Silbe hören konnte, glockenhell. »Bertie, komm mal ans Telefon! Becky ist dran!
Becky ist dran!
«
Von meinem Balkon bei Rosvita schaute ich durch die dunkle Nacht hinüber zu den blinkenden Lichtern meines Hauses. Nach vielen Monaten würde ich nun in rund zwei Wochen einziehen können. Die Küche war so gut wie fertig und sah wirklich aus wie aus einer Architekturzeitschrift: eine blaue Kücheninsel mit Hackblock-Arbeitsfläche, weiße Schränke, offene Regale. Als Spritzschutz an der Wand hatte Therese verschiedene Kacheln auf interessante Weise kombiniert. Die Küche war ein wahres Kunstwerk.
Wegen der interessanten Kacheln war eine weitere Fahrt über den tückischen Willamette River notwendig gewesen. Auf der Brücke hatte ich stark verlangsamt und mich gezwungen, nicht vor Angst die Augen zu schließen.
Aber die Fahrt lohnte sich. In einem großen Geschäft kaufte ich Kacheln mit aufgemalten Libellen. Mit Schmetterlingen. Mit Bergszenen. Kupferne Kacheln. Kleine Kacheln aus Glas. Aus Stein. Riesengroße Kacheln. Strahlend blau, seegrün und rot. Ich nahm sie mit nach Hause.
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