Blau wie Schokolade
in diesem oder jenem Heim. Sie holten mich zurück nach Hause, steckten mich in die Klinik, aber sobald ich konnte, bin ich wieder abgehauen. Sie versuchten es immer wieder. Ich habe sie und meine Eltern vor den Kopf gestoßen. Ich weiß nicht mal, warum. Ich liebe meine Eltern und meine Brüder. Wir haben uns immer gut verstanden. Ich kann mich nicht erinnern, mich mal mit meinen Eltern gestritten zu haben, bevor ich mit den Drogen anfing. Aber von dem Tag an, als ich mit siebzehn Crystal probierte, war ich drauf. Total drauf. Von da an zählte für mich nichts anderes mehr als der nächste Kick.«
Ich nickte. Ich kannte das verzweifelte Verlangen nach einem bewusstseinsverändernden Mittel, das die Wirklichkeit auf Abstand hielt. Alkohol hatte auf mich einen gewaltigen unsichtbaren Sog ausgeübt, der mich jeden Abend hinunterzog zum nächsten Glas, und zum übernächsten, bis ich den Schmerz nicht mehr spürte. Er nahm dem Leben seine Härte, aber er trennte mich auch von mir selbst ab.
Dennoch war ich nun auf dem besten Weg, meinen Kampf gegen den Alkohol zu gewinnen. Es war schwer, aber es funktionierte. Ich wollte, dass auch Becky den Kampf aufnahm.
»Wenn ich daran denke …« Becky stellte ihr Limonadenglas ab, sackte in sich zusammen und verbarg den Kopf in den Händen.
Ich strich ihr übers Haar.
»Was denn, Becky?«
Ihre schmalen Schultern bebten.
»Wenn ich darüber nachdenke, was ich meiner Familie angetan habe, besonders meiner Mutter …«
Die Tränen tropften zwischen ihren Fingern hindurch.
Ich wollte, dass sie zu weinen aufhörte, aber es dauerte sehr, sehr lange. Ich tätschelte ihr den Rücken.
»Meine Familie weiß überhaupt nicht, wo ich bin. Ich rufe meine Mutter nicht mal zu ihrem Geburtstag an. Ich habe mein Leben versaut. Das meiner Familie wahrscheinlich auch. Ich habe so viele Geheimnisse, Jeanne. Ich habe so viele furchtbare Dinge getan, anderen und mir Schreckliches zugefügt. Wenn ich die Augen zumache, kommt alles zurück. Diese Bilder reißen mich in den Abgrund. Als ob die Geheimnisse nicht wollen, dass ich je wieder glücklich bin. Ich habe es so dermaßen verbockt, Jeanne.«
Ich widersprach ihr nicht. Ich war nicht in der Lage, mir über jemand anders ein Urteil zu bilden. Allerdings hatte Becky es gewaltig verbockt – das zu bestreiten wäre sinnlos und kontraproduktiv gewesen. Sie hatte es verbockt, ich ebenfalls. So war das eben.
»Deshalb habe ich es versucht«, sagte Becky und setzte sich auf. »Ich bin jetzt seit fast einem Jahr clean. Zuerst habe ich gar nicht an meine Familie gedacht. Ich habe alle Kraft dafür gebraucht, clean zu werden und nicht wieder in das alte Leben zurückzufallen. Deshalb bin ich von Kalifornien nach Portland gezogen, ich wollte möglichst weit weg von all den Leuten, die Drogen nehmen.«
»Ich wusste gar nicht, dass du aus Kalifornien kommst.«
Becky nickte. »Doch, und je länger ich nüchtern bin, je mehr Therapiestunden ich besuche, mit je mehr Therapeuten ich spreche, desto klarer wird mir, wie ich …« Und wieder bekam sie einen Heulkrampf. »Desto klarer wird mir, wie schlimm ich meiner Familie weh getan habe, und ich konnte … ich konnte nicht … konnte nicht mehr mit mir selbst leben, und deshalb habe ich …« Sie rieb sich die Handgelenke.
Becky hatte also Schuldgefühle. Die kannte ich. Nicht das Schuldgefühl, jemandem schlimmen Schmerz zugefügt zu haben, so wie sie, sondern das Schuldgefühl des Überlebenden, und das ist ebenfalls scheußlich.
Becky zog ihre knochigen Knie an die magere Brust, und ihr strähniges blondes Haar fiel ihr auf die Beine. »Ich weiß noch, dass meine Mutter einmal weinend am Kamin saß, als ich ungefähr achtzehn war. Sie saß auf der Einfassung, und ich kam gegen zwei Uhr morgens nach Hause und war total high, und sie sah mich an, und ihr ganzes Gesicht fiel irgendwie in sich zusammen. Sie wiegte sich vor und zurück, schlang die Arme um sich und weinte. Ich ging zu ihr und wollte sie trösten, aber ich war so breit, dass ich hinfiel und wohl ohnmächtig wurde, denn als ich wieder aufwachte, weinte sie immer noch, nur hatte sie meinen Kopf auf ihrem … ihrem Schoß, und ihre Tränen tropften auf mein Gesicht.«
Becky bekam einen Schluckauf vom Weinen. »Und mein Vater … als er herausfand, dass ich Drogen nahm, ließ er mich nicht mehr zur Schule gehen. Meine Eltern versuchten, mich zu Hause zu unterrichten, aber ich haute immer wieder ab. Ich hatte nichts anderes mehr im
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